Das Haus in den Wolken
sofort den Rolls-Royce ihres Vaters, der auf der StraÃe geparkt war. Sie lief los, rannte in den Hausï¬ur, warf im Vorbeilaufen einen hastigen Blick in den Spiegel, aus Angst, Antons Kuss könnte ihr Gesicht verändert haben.
Sie hörte jemanden die Treppe herunterkommen. Als sie ihren Vater erkannte, sagte sie schnell: »Daddy, du bist schon da. Ich war nur mal kurz drauÃen, um Luft zu schnappen. Es war so heià oben.«
Sie gingen hinaus. Nicht weit entfernt konnte sie Anton ausmachen, der mit hochgeschlagenem Mantelkragen an einem Laternenpfahl lehnte. Sein Gesicht war nur ein weiÃer Schimmer in der Nacht.
Ihr Vater sagte: »Komische Leute, diese Freunde von Ruby. Kommunisten und Ausländer, so wie sie aussehen, und vermutlich alle miteinander arm wie die Kirchenmäuse.«
Richard Finborough hatte Ruby den Koffer mit den Besitztümern ihres Vaters gegeben. Ruby hatte an die Leute geschrieben, deren Adressen Nicholas Chance hinten in seinem Terminkalender notiert hatte, und gefragt, ob sie ihn gesehen oder von ihm gehört hatten. Niemand konnte ihr etwas sagen. Seit dem Winter 1927 schien keiner dieser Leute mehr Kontakt mit ihm gehabt zu haben.
Sie versuchte in vorsichtigen Gesprächen, ihre Mutter auszuhorchen, ohne ihr zu verraten, dass sie auf der Suche nach ihrem Vater war, und schaffte es allmählich, sich ein Bild vom Leben der Familie Chance in den Jahren zwischen dem Ende des GroÃen Kriegs und dem Verschwinden ihres Vaters zu machen. Nicholas Chanceâ rastlose Arbeitssuche hatte die Familie in einer wahren Odyssee von Ort zu Ort geführt. Ihr Vater hatte mit vierzehn Jahren ohne Ausbildung die Schule verlassen, aber er war ein intelligenter, energischer Mann gewesen, der aus den bescheidenen Möglichkeiten, die ihm geboten wurden, das Beste machte.
Die Reise nach Nineveh schob Ruby hinaus, so lange es ging. Isabel hatte immer darauf bestanden, dass Ruby die Verbindung zu ihren Verwandten hielt, aber nun, da sie nicht mehr unter dem Dach der Finboroughs lebte, hätte sie am liebsten den Kontakt zu den Quinns ganz abgebrochen. Sie schuldete ihnen schlieÃlich nichts. Sie hasste Nineveh, diesen verrückten, weltfernen Ort, der in einer vergangenen Zeit eingefroren zu sein schien. Wenn Maude Quinn von ihrer Schwester sprach, dann nur mit Verachtung, niemals mit Zuneigung. Dass sie ihr gegenüber halbwegs freundlich und höflich war, hatte sie, vermutete Ruby, einzig ihrer Verbindung zu der reichen und vornehmen Familie Finborough zu verdanken â Tante Maude war immer schon ein fürchterlicher Snob gewesen. Sie hatte den Chances in verzweifelter Situation alle Hilfe verweigert, keinen Finger gerührt, um ihre Schwester zu unterstützen, die nicht die robuste Kraft hatte wie sie selbst und kurz vor einem Zusammenbruch gewesen war, als sie sich an Maude gewandt hatte. Hätte Maude Etta geholfen, anstatt sie abzuweisen, wie anders hätte dann alles kommen können. Seiner drückendsten Sorgen ledig hätte Nicholas Chance vielleicht einen anderen Weg gewählt.
Aber sämtliche ihrer Nachforschungen verliefen im Sand, sodass Ruby am Ende nur die Möglichkeit blieb, mit ihrer Tante Maude zu sprechen und zu hoffen, dass diese ihr weiterhelfen konnte. Es ärgerte sie, dass Theos Bemerkung â Du solltest nett sein zu Hannah, weil sie das braucht â Gewissensbisse bei ihr hervorrief.
An einem kalten Märzmorgen nahm sie daher den Zug nach Ely, fuhr weiter nach Manea und ging vom Bahnhof aus zu Fuà nach Nineveh. Die Wolken waren von einem dunkleren Grau als die fahlen Ãste der Weiden, und der FuÃweg durch das Wäldchen zum Hof war von tiefen Pfützen durchsetzt. Die Gräben waren gefüllt mit Schmelzwasser vom kürzlich gefallenen Schnee, das ganze Land war mit Wasser vollgesogen wie ein Schwamm.
Hannah erwartete Ruby am Tor, und diese übergab der Cousine das vorzeitige Geburtstagsgeschenk, das sie ihr mitgebracht hatte. Hannah strahlte, als sie das Portemonnaie aus rotem Leder auspackte. Als ihre Mutter nach ihr rief, stopfte sie die Börse hastig in ihre Kleidertasche. Ruby bemerkte, dass sie ihrer Mutter nichts von dem Geschenk sagte.
Nach dem Mittagessen half Ruby Hannah beim Abdecken, während Tante Maude im Wohnzimmer türkischen Honig schleckte. Maude Quinn hatte stark zugenommen seit Rubys letztem Besuch vor mehr als anderthalb Jahren. Ihr Gesicht war so schwammig, dass der
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