Das Haus in den Wolken
selbstbewusstes Auftreten und Witz manchen Mangel wettmachten, aber die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass es überall Hierarchien gab. Philip gehörte dank seiner Herkunft exklusiven gesellschaftlichen Kreisen an. Er würde immer unter Frauen wählen können, die nicht nur hübscher waren als sie, sondern auch mehr Geld hatten und aus besserer Familie kamen. Er war ein gut aussehender und charmanter Mann, sportlich, lebhaft und intelligent, jeder Situation gewachsen. Und daneben verfügte er über etwas, dessen sie erst mit zunehmendem Alter gewahr geworden war: eine verborgene Macht, einen unwiderstehlichen Magnetismus, sodass sie, wenn sie mit ihm zusammen war, ihre ganze Kraft zusammennehmen musste, um unbekümmert oder auch gleichgültig zu erscheinen und ihn nicht merken zu lassen, wie es um sie stand.
Eines Abends lud Philip sie nach der Arbeit zum Essen ein. Sie gingen zu Wheelerâs in der Old Compton Street und aÃen Austern.
»Wenigstens du hasst mich nicht«, sagte Ruby erleichtert.
»Hassen?« Philip sah sie amüsiert an. »Warum sollte ich dich hassen?«
»Wegen Sara und Anton.« Ruby träufelte Zitronensaft auf eine Auster.
»Ach, das .« Philip lachte. »Da mach dir mal keine Sorgen. Du wirst sicher bald in Gnaden wiederaufgenommen werden.« Er schenkte Ruby noch ein Glas Champagner ein. »Mach nicht so ein bekümmertes Gesicht. Sara verliebt sich garantiert früher oder später in irgendeinen reichen Iren, und dann ist alles verziehen.«
Ruby erinnerte sich, um wie viel lebendiger und lockerer Sara immer gewirkt hatte, wenn sie mit Anton zusammen gewesen war. »Und wenn sie nun in Irland niemanden kennenlernt? Wenn sie nie einen anderen Mann liebt?«
Ein Schatten des Widerwillens ï¬og über Philips Gesicht. »Dieser Mensch hat doch nach allem, was ich gehört habe, überhaupt nicht zu uns gepasst.«
»Philip, ich glaube, sie hat ihn wirklich geliebt.«
»Warum hat sie ihn dann nicht geheiratet?«
»Sie konnte nicht. Das weiÃt du genau.«
»Doch, wenn sie wirklich gewollt hätte, hätte sie es gekonnt«, widersprach er. »Dad war wütend auf sie, ja, aber er hat sie schlieÃlich nicht eingesperrt. Sie hätte jederzeit zur Tür hinausgehen können. Sie hätte nicht wie das brave Töchterchen aus gutem Hause nach Raheen abdampfen müssen. Sie hätte den Kerl in Gretna Green oder sonst wo heiraten können, dann wäre meinen Eltern gar nichts anderes übrig geblieben, als sich früher oder später damit abzuï¬nden. Letztlich hat sie ihn wohl einfach nicht genug geliebt.«
Dagegen hätte Ruby vieles einwenden können: dass Sara und Anton, wären sie miteinander durchgebrannt, von Luft und Liebe hätten leben müssen und dass Töchter viel strenger als Söhne zum Gehorsam erzogen wurden; dass schlieÃlich Sara von den Finboroughs diejenige war, die Anerkennung am nötigsten hatte.
Stattdessen jedoch sagte sie: »Ich bin gespannt, wann sie wieder nach Hause kommt.«
»Unsere beleidigte Leberwurst«, sagte Philip, von Neuem amüsiert.
Nachdem Philip sie nach Hause gebracht hatte, bügelte Ruby noch eine Bluse, machte sich ein paar Brote für die Mittagspause am nächsten Tag und holte dann Füller und Papier heraus. Richard Finboroughs zorniger Auftritt hatte ihr zu Bewusstsein gebracht, wie sehr sie noch immer von den Finboroughs abhängig war. Obwohl sie kein unnötiges Geld ausgab, konnte sie von ihrem Gehalt nicht auch noch den Lebensunterhalt ihrer Mutter bestreiten. Den bezahlte weiterhin Richard Finborough. Es war eine Situation, die Ruby belastete. Die Finboroughs wollten nichts mehr mit ihr zu tun haben, aber sie war immer noch auf ihre Unterstützung angewiesen. Es war beschämend.
Es war, sagte sie sich, ungeheuer entspannend gewesen zu sehen, dass wenigstens einer aus der Familie ihr nicht böse war. In Wirklichkeit allerdings war ein Zusammensein mit Philip nie entspannend. Es war erregend und aufwühlend, herrlich und beglückend, aber nicht entspannend. Sie hielt ihre Gefühle für Philip ebenso unter Verschluss wie die Entdeckungen, die sie bei ihrem Besuch in Salisbury gemacht hatte. In ihrer Familie gab es beschämende Geheimnisse. Niemals durfte Philip von Claire Chance erfahren. Er hatte eine stolze, strenge Seite, und sie wollte nicht sehen, wie er geringschätzig den Mund
Weitere Kostenlose Bücher