Das Haus in den Wolken
verzog, wenn er von der heimlichen zweiten Ehe ihres Vaters hörte, so wie er es bei der Erwähnung von Anton Wolff getan hatte.
Ihr Wissen drückte sie nieder. Das Bild, das sie von ihrem Vater gehabt hatte, war zerstört worden, als sie von der Existenz Claires und ihrer Kinder erfahren hatte: Er war kein bewundernswerter Held, in den man sein Vertrauen setzen konnte, sondern ein schäbiger, verlogener Bigamist. Aber sie hatte einen anderen Charakter als ihr Vater, sie war nicht treulos wie er. Es war zum Beispiel gut möglich, dass sie sich nicht erinnern konnte, wann ihre Liebe zu Philip erwacht war, weil sie ihn auf ihre Art immer schon geliebt hatte. Sie liebte ihn seit jenem Tag, an dem sie ihn im Licht der farbigen Fenster im Vestibül des Hauses seiner Eltern zum ersten Mal gesehen hatte.
Entschlossen schlug sie sich die Gedanken an Philip und ihren Vater aus dem Kopf, setzte ihre Brille ab und ergriff den Füller. Wenigstens wusste sie, was sie zu tun hatte, um sich aus ihrer Verpï¬ichtung zu befreien: Sie musste mehr Geld verdienen. In den letzten Monaten hatte sie ein halbes Dutzend Kurzgeschichten geschrieben. Vor einigen Tagen war eine von ihnen von einer Frauenzeitschrift angenommen worden. Das Schreiben stand geöffnet an die Bücher in ihrem Regal gelehnt: Von Zeit zu Zeit warf sie einen Blick darauf und lächelte.
Um fünf Uhr rief Richard Freddie McCrory an, um sich zu erkundigen, wie es mit dem Ankauf der Anteile der Firma Provost voranging. Freddie berichtete, er habe bereits ein beachtliches Aktienpaket erwerben können. Er hatte anonym gekauft, um sein Interesse nicht publik werden zu lassen, und hatte, wie er Richard berichtete, Bernard Provost, dem jüngeren Sohn, diskrete Avancen gemacht, die nicht rundweg zurückgewiesen worden waren. Gerüchten zufolge hatte Bernard nicht nur kein Interesse am Familienunternehmen, sondern auch beträchtliche Schulden. Wenn man ihn überzeugen konnte, sich von seinen Aktien zu trennen, würde Richard die Kontrolle über die Firma Provost gewinnen.
Richards Geschäfte blühten, er hatte so viel Geld und materiellen Besitz, wie ein Mensch sich nur wünschen konnte, und dennoch fühlte er sich seit einiger Zeit rastlos und unzufrieden. Ihm fehlte die Herausforderung, eine Aufgabe, an der er sich messen konnte. Im vergangenen Jahr war er fünfzig geworden, und insgeheim quälte ihn die Furcht, die besten Jahre könnten vorbei sein, seine Geschäfte würden von selbst weiterlaufen, und für ihn gehe es nur noch darum, zu erhalten, was er erreicht hatte.
Zwei Dinge hatten seine Stimmung aufgehellt, seinen alten Kampfgeist wieder geweckt. Das eine war die Aussicht, die Firma Provost zu übernehmen; das andere war die Bekanntschaft mit Elaine Davenport.
Immer wieder einmal im Lauf eines Tages â wenn er im Auto saà oder zwischen zwei Terminen war â dachte Richard an Elaine Davenport. Er hatte ihr Geschäft noch einmal aufsuchen müssen. Der Hut, den er Isabel gekauft hatte, war zu groà und musste umgetauscht werden. Elaine Davenport hatte gerade eine Kundin bedient, als er gekommen war, und während er gewartet hatte, war er kaum fähig gewesen, den Blick von ihr zu wenden, von der schmalen Taille, die er mit seinen Händen hätte umspannen können, von ihrem silbrigblonden Haar und ihrer zarten Haut, durch die an den Händen bläulich die Adern schimmerten. Er war beinahe eifersüchtig gewesen auf die Kundin, eine rundliche kleine Frau, die während der Hutanprobe Elaine Davenports Berührung und Lächeln genieÃen durfte.
Seine Entscheidung, die Firma Provost zu erwerben, war kontrolliert und rational, sein Verlangen nach Elaine Davenport war es nicht. Er hatte im Lauf der Jahre mit vielen Frauen geï¬irtet und mit einer oder zwei von ihnen geschlafen, doch an solche Gefühle wie jetzt, eine solche Hochstimmung, eine solche Begierde, konnte er sich nicht erinnern. Aber er wusste nicht, wie sie zu ihm stand. Sie war weit jünger als er â war sie geschieden, verwitwet oder glücklich verheiratet? Gab es da einen lästigen Ehemann? Hatte sie Kinder? Wenn ihn sein Eindruck nicht trog, so war sie während ihrer kurzen Gespräche nicht unberührt geblieben. Die höflichen Floskeln, die sie tauschten, waren von einem Unterton begleitet gewesen. Er erinnerte sich, wie sie einen Hut nach dem anderen aufgesetzt und sich jedes Mal mit
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