Das Haus in der Löwengasse (German Edition)
hin erlaubte Frau Stein ihr einzutreten. Die Hausherrin saß im rüschenverzierten Nachthemd im Bett. Ihre Leidensmiene verriet, dass sie wieder einmal unter einer der schlimmen Kopfschmerzattacken litt, die sie mindestens zweimal pro Woche ereilten. Pauline reichte ihr erst die Medizin und dann die Teetasse. Ariane Stein nickte ihr nur knapp zu. «Der Tee ist gut, Pauline. Anscheinend bist du die Einzige im Haus, die verstanden hat, wie er sein soll. Hach, wenn nur diese Kopfschmerzen nicht wären! Grässlich, grässlich. Pauline, geh nach unten und mach mir einen Kräuterumschlag. Ich fürchte, ich werde sonst nicht schlafen können. Und wenn es morgen früh nicht besser ist, musst du zum Apotheker gehen und mir mehr von der Medizin holen.»
«Natürlich, gnädige Frau. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?» Abwartend stand Pauline neben dem Bett, doch die Hausherrin winkte nur ungeduldig ab. «Den Umschlag, Pauline. Und lass dir nicht zu viel Zeit damit.»
Pauline nahm den leeren Becher an sich und verließ das Zimmer, um den gewünschten Kräuterumschlag zu bereiten. Das bedeutete, dass das Wasser noch einmal aufgekocht werden musste. Pauline gähnte mehrmals, während sie die Arbeiten mechanisch verrichtete. Zwischendurch ging sie hinaus in den Hinterhof und schöpfte frisches Wasser aus dem Brunnen, mit dem sie sich Gesicht und Hände wusch. Das kalte Wasser belebte sie für kurze Zeit ein wenig. Seit sie beschlossen hatte, dass sie das beste Dienstmädchen werden wollte, damit sie die Stellung behalten konnte, hatte sie kaum eine Nacht mehr als fünf Stunden geschlafen. Und wie es aussah, würde ihre Nacht heute noch kürzer werden.
Frau Stein hatte Paulines fleißige Bemühungen wahrgenommen und sie fest eingestellt. Doch inzwischen hatte sie auch eine Vorliebe für Pauline entwickelt und beanspruchte sie weitaus mehr als die übrigen Dienstboten. Die Liste mit Aufträgen, die jeden Morgen im kleinen Salon auslag, schien für Pauline täglich länger zu werden. Doch weder Tine noch Elfie dachten auch nur im Traum daran, ihr ein wenig zu helfen. Im Gegenteil – die beiden waren offensichtlich von Herzen froh, dass Pauline den Löwenanteil der Arbeit zu verrichten hatte.
Zu allem Überfluss tuschelten die beiden häufig hinter Paulines Rücken. Pauline vermutete, dass sie sich über ihre Bemühungen, sich vor allem bei der täglichen Körperpflege ein wenig Privatsphäre zu bewahren, lustig machten. Auch ihre Anstrengung, ihr Haar hübsch aufzustecken und nicht nur eine leidlich saubere, sondern rundum adrette Erscheinung abzugeben, wurde von den anderen belächelt. Selbst Paulines Ausdrucksweise gab hin und wieder Anlass zu Spott. Die Dienstboten im Hause Stein sprachen alle ausgeprägten Kölner Dialekt. Pauline hingegen hatte von klein auf gelernt, sich in gewähltem Deutsch auszudrücken. Es war ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Heiner hatte sie schon oft damit aufgezogen, ebenso wie er nichts Besseres zu tun gehabt hatte, als den anderen brühwarm von ihren Gesangs- und Tanzstunden zu berichten. Seither galt sie als etwas sonderbare Außenseiterin. Keiner der anderen Dienstboten hatte eine Erziehung genossen, die sich mit der ihren vergleichen ließ. Sie konnten gerade einmal lesen und schreiben und unter Zuhilfenahme ihrer Finger rechnen. Wozu brauchte eine Magd oder ein Hausdiener auch mehr Wissen?
Inzwischen war Pauline klar geworden, dass all die Dinge, die sie gelernt hatte, ihr im harten, wirklichen Leben überhaupt nichts nutzten. Sie hatte sich nie die Hände schmutzig machen müssen. Und jetzt hatte sie fast vergessen, wie sich richtig saubere Kleider, frischgewaschene Haare oder gar ein Bad anfühlten. Dabei war sie noch gar nicht lange Magd. Sie wusste, über kurz oder lang würde sie abstumpfen, so wie die anderen. Vermutlich wäre das sogar von Vorteil, denn dann müsste sie nicht mehr jeden Abend mit Tränen in den Augen einschlafen. Sie würde sich nicht mehr einbilden, dass sie für etwas anderes als diese Knochenarbeit geboren worden war. Wenn sie ehrlich war, wusste sie, weshalb die anderen sich über sie mokierten und ihr nicht die Freundschaft anboten. Sie war anders. Nicht besser, nein, über diesen Gedanken war sie inzwischen hinaus. Auch wenn sie nach wie vor davon träumte, dieser Art Leben zu entfliehen, wusste sie doch, dass die Wahrscheinlichkeit gering war. Und selbst wenn es ihr gelänge, würde sie doch niemals wieder die Gleiche sein, so gedankenlos gegenüber
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