Das Haus in der Löwengasse (German Edition)
ältliche Dame hinauszukomplimentieren. Als sich die Tür hinter ihm schloss, stieß er ein entnervtes Grummeln aus. Pauline meinte das Wort «Schnepfe» aus seinem Gemurmel herauszuhören, war sich allerdings nicht ganz sicher. In diesem Moment ging die Ladentür erneut auf, und ein eleganter Herr in dunklem Anzug und blendend weißem Hemd mit hohem Vatermörderkragen trat ein.
«Ah, guten Tag, Herr Reuther, immer hereinspaziert!», begrüßte Herr Stein ihn erfreut. «Womit kann ich Ihnen dienen?»
Julius Reuther nahm seinen modischen schwarzen Zylinderhut vom Kopf und deutete eine knappe Verbeugung an. «Guten Tag, Herr Stein. Ich bin auf der Suche nach einem Geschenk. Einem Mitbringsel für eine Dame.»
«Da kommen Sie zu mir?», wunderte der Kaufmann sich. «Wäre da nicht ein Gang zum Juwelier angebrachter?»
Julius Reuther lachte. «So kostspielig soll es nicht sein. Eher etwas Kleines, Exotisches. Getrocknete Feigen und Datteln vielleicht.»
«Nun, dann wollen wir doch mal sehen, was sich da finden lässt. Pauline, mach mal Platz!» Stein tippte Pauline unsanft mit der Fußspitze an.
«Ja, Herr Stein, sofort. Aber ich bin noch nicht ganz fertig.» Pauline erhob sich hastig, hätte dabei fast den Putzeimer umgestoßen. Rasch trat sie einen Schritt zur Seite und stieß dabei mit dem Kunden zusammen, der reflexartig ihre Oberarme umfasste, um zu verhindern, dass sie stürzte. «Hoppla», sagte er nicht gerade freundlich. «Nicht so hastig.»
Erschrocken drehte Pauline sich um und starrte in ein Paar kühl glitzernder blauer Augen.
Im nächsten Moment ließ er sie auch schon wieder los. Mit steinerner Miene ging er an ihr vorüber und folgte dem Kaufmann in den hinteren Teil des Ladens.
«Entschuldigen Sie, Herr Reuther. Das Mädchen ist manchmal etwas tollpatschig. Leider hat es vorhin ein kleines Missgeschick gegeben, das sie beseitigen muss.» Er drehte sich zu Pauline um. «Beeil dich ein bisschen, Pauline. Du bist nicht hier, um Maulaffen feilzuhalten. Sieh zu, dass der Boden sauber wird, und dann verschwinde wieder.»
«Ja, gnädiger Herr.» Pauline kniete sich erneut hin und bemühte sich, mit Handschrubber und Putzlappen den öligen Fleck zu beseitigen. Dabei bildete sie sich ein, den Blick des fremden Herrn auf sich zu spüren, doch sooft sie auch in seine Richtung schaute – immer war er in das Gespräch mit Herrn Stein verwickelt und beachtete sie nicht.
Pauline war froh, als sie den Laden endlich wieder verlassen konnte. Der Zusammenstoß mit diesem unfreundlich wirkenden Mann war ihr furchtbar peinlich. Hoffentlich hatte er sich an ihrem mit Wasser- und Ölflecken verunzierten Kleid nicht Hände und Anzug verschmutzt. Denn dafür würde man sie ganz gewiss schelten.
Pauline schüttete das Schmutzwasser aus, brachte den Eimer in die Küche zurück und hängte den Putzlappen zum Trocknen auf. Dann ging sie zurück in den Salon, wo die restlichen Gläser noch immer auf ihre Politur warteten. Auf ihrem Weg zum Tisch kam sie an einem der Wandspiegel vorbei und erschrak, als sie ihr Antlitz darin sah. Kein Wunder, dass dieser Herr Reuther sie so entsetzt angestarrt hatte. Ihr Kleid war tatsächlich von hässlichen Wasserflecken verunziert. Beim Schrubben hatten sich mehr Haarsträhnen als üblich aus ihrem Knoten gelöst und umflatterten wirr ihr Gesicht. Am schlimmsten war jedoch der ölig-braune Fleck, der sich quer über ihr Kinn bis zu ihrem linken Ohr hinzog. Stöhnend tastete sie mit den Fingerspitzen danach und rannte noch einmal hinaus in den Hof, um sich das Gesicht mit kaltem Wasser und Seife zu waschen.
***
«Julius, was für eine nette Überraschung!» Annette Reuther stand aus ihrem bequemen Sessel auf und trat ihrem Sohn entgegen. «Was machst du denn schon heute hier? Es ist doch erst Mittwoch. Sonst kommst du doch immer donnerstags.»
«Guten Tag, Mutter.» Julius gab der hochgewachsenen, schlanken Frau einen Kuss auf die Wange und reichte ihr die Schachtel mit den getrockneten Früchten. «Morgen kann ich leider nicht kommen, weil ich eine Verabredung mit Berthold Schnitzler zum Abendessen habe.»
«Schnitzler, der Bankier?» Annette hob den Deckel der Schachtel und lächelte erfreut, als sie erkannte, um was es sich bei deren Inhalt handelte. Doch dann schien ihr die Bedeutung von Julius’ Worten aufzugehen. Nervös tastete sie nach ihrer weißen Haube, unter der sie ihre braunen Locken verbarg. «Steckst du etwa in finanziellen Schwierigkeiten?»
«Nein, Mutter, keine
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