Das Haus in Georgetown
nicht vorstellen. Sie hatte zu viele Jahre im Schatten eines Ehemannes gestanden. Jetzt war es an der Zeit herauszufinden, wer sie wirklich war.
Sie begriff zum ersten Mal seit dem dramatischen Zusammenbruch ihres alten Lebens, dass sie – ganz Joe Hustons Kind – zu sehr einem Schwarz-Weiß-Denken verhaftet gewesen war. Doch sie hatte sich verändert. Die Welt hatte sich verändert. Zum ersten Mal konnte sie nun selbst über den Fortgang ihres Lebens bestimmen und in wichtigen Fragen selbst eine Entscheidung fällen. Zum Beispiel, ob sie mit Pavel Quinn schlafen wollte oder nicht.
Sie musste lächeln. Pavel hatte sie nicht in sein Bett eingeladen. Ihm schien ihre lockere Freundschaft zu gefallen. Sie wusste durchaus noch, wie sich ein Annäherungsversuch abspielte, auch wenn ihre Erfahrungen diesbezüglich schon lange zurücklagen. Pavel war höflich, ungezwungen, freundlich.
Aber Pavel begehrte sie.
Ihre Finger hatten sich berührt und ihre Körper einander gestreift. Sie hatte ihn geküsst und er sie heute Nacht vor ihrer Haustür kurz umarmt – kurz sicher nicht, weil er kein Interesse an ihr hatte, sondern, ganz im Gegenteil, weil er sie nicht durch ein Übermaß an körperlicher Zuwendung vergraulen wollte.
Sie konnte nicht sagen, ob sie schon bereit war, mit ihm zu schlafen. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie im Bett überhauptviel zu bieten hatte. Aber eines war klar: Für sie gab es kein wirksameres Aphrodisiakum als einen Mann, der sie begehrte.
Sie hatte keine Chance, diesem Gedanken noch ein wenig nachzuhängen. Vom Speicher drang wieder Geheul. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie setzte sich auf und griff nach ihrem Morgenmantel. „Blöde Katze.“ Sobald sie das ausgesprochen hatte, ging es ihr besser, obwohl Gast natürlich nichts dafür konnte, dass sie wie ein Menschenkind schrie.
„Was ist los?“ Remy lief im selben Augenblick auf den Flur wie sie. „Warum schreit sie?“ Auch Alex tauchte auf.
Die Katze hatte ihnen zu verstehen gegeben, dass sie in Ruhe gelassen werden wollte. Futter war in Ordnung. Wasser und Katzenstreu waren prima. Aber immer, wenn sie ihr näher zu kommen versuchten, fauchte Gast sie an. Faith war entschlossen, die ganze Katzenfamilie einzufangen und zum Tierarzt zu schaffen, damit sie untersucht und geimpft werden konnte, aber bis jetzt hatte sie sich noch nicht getraut.
„Wir müssen auf den Dachboden und nachschauen“, sagte sie.
„Was, wenn mit den Kleinen etwas nicht stimmt?“ Remy klang auf einmal gar nicht mehr cool.
„Lass uns nicht den Teufel an die Wand malen.“ Faith ging in Alex’ Zimmer und öffnete die Speichertür.
Am Fuß der Treppe stand Gast, die mit ihren Zähnen eine kleinere graue Ausgabe ihrer selbst vorsichtig am Nacken hielt. Als sie ihr auswichen, fegte Gast an ihnen vorbei, während das Kätzchen miaute und mit den Pfötchen strampelte. Die Mutter verließ den Raum und lief auf Remys Zimmer zu.
„Mom, da oben ist es höllisch heiß!“ Alex wedelte mit der Hand, als der heiße Luftschwall vom Speicher ihn erfasste.
Faith ging zwei Stufen hinauf und betätigte den Schalter, derden Ventilator in Gang setzte. Nichts geschah. „Der Ventilator tut’s nicht. Vielleicht ist die Sicherung rausgesprungen.“
„Die Kätzchen wären beinahe geröstet worden“, meinte Alex.
Faith beobachtete ihre Tochter, die Gast auf Zehenspitzen folgte. In ihrer Tür blieb Remy stehen. Faith stellte sich neben sie.
Gast tauchte gerade aus einer offenen Schublade von Remys Kommode auf und sprang zu Boden. Sie wartete, bis die beiden die Tür freigaben, und lief zurück zur Speichertreppe.
„Holt sie sie alle runter?“ flüsterte Remy.
„Ich glaube schon.“ Faith guckte Remy an. So aufgeregt hatte sie ihre Tochter seit Monaten nicht erlebt. Sie sah aus, als hätte sie ein Pony oder ein neues Fahrrad bekommen – so hatte sie häufig ausgeschaut, bevor ihr junges Leben in Scherben gegangen war.
„Warum hat sie sich für mein Zimmer entschieden?“ fragte Remy.
Faith hoffte, dass Alex nicht neidisch würde. Immerhin hatte er Lefty, der inzwischen in einem ordentlichen Käfig mit Laufrad und allen sonstigen Errungenschaften der modernen Nagetierhaltung lebte. „Sie ahnt halt, wo sie eine Freundin findet.“
„Ach, du bist ja blöd.“
„Ich weiß“, meinte Faith leise.
Gast kam mit einem zweiten Kätzchen vorbei, das weiß und lebhafter als sein Geschwisterchen war. Schließlich schleppte sie noch zwei weitere an, ein
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