Das Haus in Georgetown
Jahre.
Im Bett legte sie sich auf die Seite, schloss die Augen und fragte sich, ob dieser Traum sie heute wieder heimsuchen würde. Seltsamerweise hatte sie ihn seltener, seit Faith in die Prospect Street gezogen war. Sie hatte den Verdacht, dass es an den Fortschritten lag, die Faith dort machte. Zu ihrem eigenen Erstaunen gefiel es ihr zu sehen, wie das Haus wieder zum Leben erwachte. Sie hatte erwartet, dass das Haus sie schmerzhaft an den schlimmsten Augenblick ihres Lebens erinnern würde. Stattdessen fiel ihr, während sie beobachtete, wie Faith die Renovierungsarbeiten meisterte, ihre eigenen Begeisterung wieder ein, mit der sie als junge Frau ihr erstes Heim eingerichtet hatte.
Das war natürlich lange her. Sie gab sich selten solchen Erinnerungen hin, da sie meist mit Schuldgefühlen aufgeladen waren. Doch jetzt versetzte sie sich in die Zeit zurück, als sie das Haus gerade erst bezogen hatte – wie auch Joe gerade erst der ihre geworden war. Sie war nicht immer sechsundsechzig gewesen. Damals, mit sechsundzwanzig Jahren, hatte sie viel Energie und Zuversicht besessen, sie war eine junge Frau gewesen, die sich ihren Ehemann aus einer eindrucksvollen Liste von Bewerbern ausgesucht hatte.
Sie hatte vor Lebenslust vibriert und war sich ihrer Liebe sicher gewesen.
Wie lang das her war.
Als Joe und sie von ihrer kurzen Hochzeitsreise von den Bermudas zurückgekehrt waren und Lydia ihre erste gemeinsame Mahlzeit vorbereitete, wählte sie schlanke, rosafarbene Wachskerzen, um den Tisch zu schmücken. Sie polierte die silbernen Kerzenständer, obwohl sie seit der Hochzeit im April noch gar keine Gelegenheit gehabt hatten, anzulaufen. Sie hatte ein Blumengeschäft auf der Wisconsin Avenue besucht, sechs rosa-weiße Pfingstrosen ausgesucht und sie nun mit ein wenig Grün aus Großmutters verwildertem Garten in einer böhmischen Kristallglasvase arrangiert.
Ihr Hochzeitsgeschirr, cremeweiß mit dünnen silbernen und goldenen Rändern, machte sich gut auf dem blassgrünen Leinentischtuch, das Lydias ehemalige Zimmergenossin vom College ihnen geschenkt hatte, und das neue Silberbesteck mit den zierlichen Griffen im Muscheldesign lag auf den cremefarbenen Servietten, die sie von einer von Joes Tanten bekommen hatten.
In Georgetown herrschte im frühen Juni eindeutig schon Sommer. Heute waren die Temperaturen unerwartet auf zweiunddreißig Grad gestiegen, und die Luft kochte förmlich. Sie hatte die hiesigen Sommer, vor denen selbst die robustesten Naturen kapitulieren mussten, schon fast vergessen gehabt. Als Kind hatte sie in Bombay und später in Samoa gelebt. Hitze und Feuchtigkeit waren ihr also vertraut, aber sie hatte verdrängt, dass auch Washington manchmal in den Tropen zu liegen schien.
Das alte Reihenhaus war an die Hitze gewöhnt. Die Wände waren dick genug, um die Einwohner vor dem Schlimmsten abzuschirmen. Im neunzehnten Jahrhundert hatten die Architekten gewusst,wie man bauen musste, um die Hitze erträglich zu machen: hohe Decken, damit die warme Luft nach oben stieg, und einander gegenüberliegende Fenster, dank derer man für Durchzug sorgen konnte.
Sie wollte eine Klimaanlage einbauen lassen, war aber noch nicht dazu gekommen, Bauunternehmer zu suchen und Angebote einzuholen. Kaum dass Joe und sie von den Bermudas zurückgekehrt waren, hatte sich Joe zu einer Untersuchungsmission nach Kuba aufgemacht. Er war eigentlich noch nicht lange genug im Kongress, um für so verantwortungsvolle Aufgaben ausgewählt zu werden, aber man betrachtete ihn als Kriegsheld, der bei Inchon sein Leben aufs Spiel gesetzt und seinen Einsatz für ein starkes, kommunistenfreies Amerika unter Beweis gestellt hatte. Also musste er natürlich gehen, denn der Kuba-Auftrag stellte eine Art Auszeichnung dar.
Lydia war so stolz auf ihn, aber sie hatte sich auch oft einsam gefühlt, als sie das Haus einrichtete. Von Kuba war Joe nach Norfolk geflogen, dann weiter nach Roanoke und Richmond, zu einer kurzen Vortragsreise durch seinen Bundesstaat. Reisen und Kampagnen gehörten zu seinem Beruf, das verstand Lydia. Sie war dennoch heilfroh, dass er heute Abend nach Hause kommen würde.
In den Wochen seiner Abwesenheit hatte sie sich bemüht, das Haus zu verschönern. Sie wusste, das ihr Mann das Reihenhaus eigentlich nicht mochte, obwohl andere Leute fanden, dass Georgetown für einen Politiker genau die richtige Adresse war. Ihm gefiel vermutlich vor allem, dass sie hier kostenlos wohnen konnten. Nach dem Tod ihrer
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