Das Haus in Georgetown
Mohnblumen. Lydia hat Ihnen sicherlich vom Mohnblumen-Sommer erzählt?“
„Mohn, das sind diese roten Blüten, oder?“ wollte Alex wissen.
„Es gibt sie in allen möglichen Farben, aber diese waren tatsächlich rot“, erklärte Dottie Lee. „Leuchtend rot. Im Sommer 1941 kam halb Washington hierher, um sie zu sehen.“
„Die Garten-Tour.“ Faith hatte nicht daran gedacht, Dottie Lee über dieses Ereignis auszufragen. Lydia war im Gegensatz zu Dottie Lee zu jung gewesen, um sich an Einzelheiten zu erinnern.
„Violets Garten war in Georgetown Stadtgespräch. Deshalb hat man ihn in den Rundgang aufgenommen: weil alle ihn angucken wollten.“
„Was war an den Mohnblumen so besonders?“ erkundigte sich Alex.
„Im Sommer 1941 befanden sich bereits viele Nationen im Krieg, aber Amerika war noch nicht dabei. Violet pflanzte roten Mohn, um ihren Nachbarn vor Augen zu führen, dass ein Kriegeine schlimme Sache ist. Hunderte blühten auf jedem verfügbaren Fleckchen Erde. So etwas hatte man noch nie gesehen. Sie waren atemberaubend und wirkten wie grellroter Rauch, der den Boden bedeckte. Die Blumen wuchsen sogar zwischen den Pflastersteinen, aus denen der Weg, der zum Gewächshaus führte, bestand.“
Alex hatte aufmerksam zugehört. „Der Angriff auf Pearl Harbor war im Dezember 1941, nicht? Das haben wir letztes Jahr gelernt. Aber was hat Mohn damit zu tun?“
Zum zweiten Mal kam Faith ein passendes Gedicht in den Sinn. „Es gibt ein berühmtes Gedicht über den Ersten Weltkrieg. Es fängt so an: ,Auf Flanderns Feldern wiegt sich Mohn auf unsren frischen Gräbern schon‘. Seitdem soll roter Mohn die Menschen an jene Männer erinnern, die im Kampf gefallen sind.“
Dottie Lee fuhr mit ihrer Erklärung fort: „Wegen James war sich Violet im Klaren, dass Krieg immer viel Leid mit sich bringt. Als die Vereinigten Staaten schließlich in den Krieg eintraten, ließ sie zwar den gleichen Patriotismus wie alle anderen erkennen, aber sie bildete sich nicht ein, dass das, was nun folgte, glamourös werden würde. Sie wusste es besser.“
Seit sie in das Haus in der Prospect Street gezogen war, hatte Faith ein Leben aufgegeben und war zugleich, ehe sie sich’s versah, in ein anderes hineingeglitten. In dieser Situation hatten ihre weiblichen Vorfahren ihr beigestanden. Die Entschlossenheit all dieser Frauen, das Haus zu behalten, hatte ihr Leben verändert, denn wäre sie nicht hier eingezogen, so hätte sie nicht über ihr altes Selbst hinauswachsen können. Es gab so vieles, wofür sie den Frauen, die hier gelebt und geliebt hatten, dankbar sein musste.
Sie spürte Pavels Hände auf ihren Schultern und lehnte sich gegen ihn. Ihr Blick fiel auf Dottie Lees Gesicht. Pavels besitzergreifender Griff war ihrer Nachbarin offenbar nicht entgangen.
„Ich weiß mehr über dieses Haus und die Dinge, die darin vorgefallen sind, als sonst jemand auf der Welt“, sagte Dottie Lee. „Merken Sie sich das, Faith. Wenn Sie Antworten suchen, ich kenne sie.“ Sie schaute Pavel in die Augen. „Aber erst, wenn Sie stark genug sind, sich mit bestimmten Themen auseinander zu setzen.“
23. KAPITEL
Faith hatte schon befürchtet, dass Remy sich am nächsten Nachmittag nach der Schule aus dem Staub machen würde, aber ihre Tochter wartete tatsächlich am vereinbarten Treffpunkt darauf, von ihr abgeholt zu werden. Während der Fahrt beantwortete Remy ihre Fragen äußerst einsilbig und schwieg nach Möglichkeit, aber Faith nahm es gelassen.
Alex war einen Freund besuchen gegangen und würde erst kurz vor dem Abendessen wieder zurück sein. Da sie keine anderen Verpflichtungen hatte, fing Faith an, in ihrem Schlafzimmer die Tapeten von den Wänden zu reißen. Als sie sich nach einer Stunde umdrehte, stand zu ihrer Überraschung Remy in der offenen Tür. Offenbar hatte sie ihr zugesehen.
„Das ist ja krank. Wer hat sich bloß freiwillig diese Muster ausgesucht?“
Faith, die auf einer Trittleiter stand, hatte in der Mitte der Wand bereits breite Streifen abgelöst, aber darüber, in der Höhe, die sie mittlerweile fachmännisch als „Fries“ bezeichnete, hatte sie eine stilisierte Landschaft, einen Zypressenhain bei Sonnenuntergang entdeckt.
„Krank? Mir gefällt das. Ich wünschte, ich könnte die ganze Szene retten. Ich habe es versucht, aber es sind so viele Schichten darüber gepappt, dass es aussichtslos ist.“
„Wer will schon ein Wandgemälde ganz oben an der Wand?“
„Während der Jahrhundertwende muss das
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