Das Haus in Georgetown
verstehst du?“
Offenbar dachte Remy mehr über die Familie nach, als sie sich anmerken ließ. „Du hast bestimmt Recht, aber nicht mit dieser Schicht. Ich vermute, Hopes Kinderzimmertapete liegt um einiges tiefer. Das ist so lange her.“
„So wie ihr es um jeden Preis vermeidet, das Thema anzuschneiden, könnte man meinen, es wäre erst gestern passiert.“
„Was willst du damit sagen?“
„Also, normalerweise reden Leute nicht gern über aktuelle Probleme, über Sachen, die noch richtig wehtun. Aber in unserer Familie wird über die Entführung sogar jetzt noch nicht gesprochen.“
„Wenn ein Kind zur Welt kommt, hat man sofort das Gefühl, dass man diesen Menschen schon ewig kennt und liebt. Als meine Mutter Hope verlor, war es so, als hätte man ihr einen Arm oder ein Bein abgehackt, obwohl sie das Baby nur ein paar Tage hatte.“
„Würdest du dasselbe fühlen?“
„Ich habe keine Ahnung, ob ich das überhaupt durchgestanden hätte.“ Faith wog ihre nächsten Worte sehr genau ab. „Mutter hat damals einen Teil ihres Herzens verloren, und seitdem lässt sie keinen an den Rest heran.“
„Du glaubst, deshalb ist sie so ... Ich weiß nicht ...“
„Distanziert?“
„Fies.“
Faith musste lächeln. „Also, ich habe sie vor der Entführung natürlich noch nicht gekannt.“
Remy kicherte. „Vielleicht war sie schon immer fies.“
„Sie hält ihre Mitmenschen einfach auf Distanz. Seit wir hergezogen sind, ist es besser geworden. Ist dir das aufgefallen?“
„Vielleicht kommt es dir nur so vor, weil du sonst niemanden zum Reden hast, seit Daddy weg ist.“
Faith fand es ermutigend, dass Remy David erwähnte. „Vielleicht bin ich einfach umgänglicher geworden.“
„Aber auf mich bist du dauernd sauer.“
„Aus gutem Grund.“
Remy antwortete nicht.
Schweigend schabten sie weiter. Als sie die oberste Schicht entfernt hatten, machten sie sich an die nächste, die ebenfalls hässlich war. Der Designer hatte sich wohl für einen Pop-Art-Künstler gehalten. Die Herzen und Blumen sollten wohl gute Laune verbreiten.
„Das schaut nach den Spätsechzigern aus – oder frühe Siebziger. Eben noch ein Beatles-Cover und jetzt schon als Tapete an der Wand.“
„Wann ist Hope geboren worden?“
„1962. Also dürfte sich noch wenigstens eine weitere Schicht zwischen dieser und der Kindertapete befinden.“
„Womit hat Großmutter dein Kinderzimmer tapeziert?“
„Wachsoldaten.“ Faith traktierte das Papier mit ihrem Messer. „Nein, das war nur ein Scherz. Ich habe Fotos gesehen. Sie war mit Teddybären in allen Formen und Größen übersät. Und als ich geboren wurde, haben uns die Leute aus ganz Virginia Teddybären geschickt. Puppen und Teddybären.“
„Wegen Hope?“
„Dein Großvater hat sie alle in Kinderkrankenhäuser verfrachten lassen, aber ich habe vor kurzem einen Zeitungsbericht darüber entdeckt. Vorher wusste ich das nicht.“
„Ich schätze, die meisten Leute waren froh, dass mit dir alles gut gegangen ist.“
„Die Menschen lieben Happy Ends.“
„Ich habe gedacht, alle Geschichten hätten ein Happy End.“
Faith war gerührt. „Du solltest die nächste Folge dieser Geschichte abwarten. Manchmal führen die holprigsten Straßen schließlich zu den allerschönsten Plätzen.“
„Das ist ja wohl superplatt, selbst für dich.“
Faith brach in Gelächter aus. „Du lässt mir nichts durchgehen.
Das muss ich dir lassen, Kleine.“
Sie kratzten und zogen, kamen sich gelegentlich ins Gehege, wenn sie sich anders setzen mussten, und lehnten sich eine Zeit lang bequem mit den Rücken aneinander. Die dritte Tapete war marineblau mit winzigen weißen Bourbonenlilien in strengen Reihen.Schlicht und strapazierfähig – sie passte besser in ein Arbeitsals in ein Schlafzimmer.
„Das ist bestimmt die letzte Schicht über Hopes Kindertapete“, meinte Faith. „Sie ist dunkel genug, um alles darunter hundertprozentig abzudecken.“
„Sie ist so dunkel, dass das Zimmer bestimmt wie eine Grabkammer gewirkt hat.“
Faith dachte, dass der Raum den beiden Menschen, deren Kind aus diesen vier Wänden gestohlen worden war, ohnehin wie eine Grabkammer vorgekommen sein muss.
Sie kratzten und schabten weiter und trugen mit einem großen Schwamm eine Speziallösung auf das Papier auf, die Faith aus ihrem Zimmer mitgebracht hatte. Die nächste Schicht sah anders aus, als sie erwartet hatten. Es war eine elegante Tapete mit smaragdgrünen und goldenen Streifen, etwas zu
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