Das Haus mit der grünen Tür
irgendwo.
Es berührte mich nicht. Es war ein häßlicher Morgen, und ich machte nicht einmal meine Yogaübungen. Ich pellte mich aus den dreckigen Kleidern und versuchte unter einer kochendheißen Dusche Leben in meinen Körper zu peitschen, bevor ich in die Stadt fuhr und in irgendeiner Cafeteria ein schlecht zusammengewürfeltes Frühstück aß. Aber der Kaffee war gut, und ich fühlte, daß ich langsam wieder zum Leben erwachte. Und ich hatte viel zu tun.
Es war eine lange Nacht gewesen, und es würde ein anstrengender Tag werden.
21
Ich bestellte noch eine Tasse Kaffee und versuchte, meine Gedanken zu sortieren. Eine Sache machte mir Sorgen: Es tauchten langsam ein wenig zu viele falsche Identitäten auf. Eine davon war der mysteriöse Stein Wang, der die Wohnung gemietet hatte, die Frau Moberg in regelmäßigen Abständen besucht hatte, zuletzt an dem Abend, als sie ermordet wurde. Wang hatte nicht einmal ein Gesicht. Und dann der andere: der Mann, der in mein Büro gekommen war und mich gebeten hatte, Frau Moberg zu beschatten. Der Mann, der sich Ragnar Veide genannt hatte, nun aber nicht Ragnar Veide war. Er hatte ein Gesicht, ein Gesicht, das ich nicht wieder vergessen würde.
Ich spielte mit einem naheliegenden Gedanken: Wenn nun der mysteriöse Stein Wang und der Mann, der sich Ragnar Veide genannt hatte, ein und dieselbe Person waren? Aber wer war er dann? Und warum tat er, was er getan hatte? Weil er der – Mörder war?
Und dann war da Rigmor Moe und ihre Verbindung zu dem Haus mit der grünen Tür. Da war das Ehepaar Kvam und seine Firma – und da war der riesenhafte Hausmeister, Teddy Lund. Was verbarg sich eigentlich hinter der grünen Tür? Und gab es da womöglich eine Verbindung zu dem Mord an Margrete Moberg?
Ich trank den Kaffee aus und ging in den grauen, trüben Tag hinaus. Ich hatte viel zu tun, und es mußte schnell gehen.
Das Hotel, in dem der Mann, der sich Ragnar Veide nannte, gewohnt hatte, hatte sich nicht verändert. Hinter dem Rezeptionstresen saß derselbe Mann mittleren Alters mit denselben dunklen Säcken unter den Augen und derselben glänzenden Glatze. Aber er frühstückte nicht. Er las. Es war eines dieser Hefte, die immer verknittert aussehen, wahrscheinlich weil sie zu allen Zeiten und Unzeiten zusammengefaltet und in Schubladen, Jackentaschen oder hinter Stuhlrücken gestopft werden. Auf der Titelseite war eine nackte Frau mit etwas im Mund, das an eine Zigarre erinnerte. Auf der Rückseite verkündeten große, leuchtende Buchstaben den Titel des Hauptartikels der nächsten Nummer: »Ich wurde von meinem Onkel verführt – in der Sakristei, während der Hochmesse.« Klang vielversprechend.
Der Mann hinter dem Tresen hatte mir einen schnellen Blick zugeworfen, als ich hereinkam, aber als er mich wiedererkannte, hielt er es nicht einmal für nötig, das Heft zu verstecken.
Ich studierte ein paar Minuten lang die Vorder- und Rückseite, aber das war nicht sonderlich spannend. Schließlich brach ich die Stille: »Sag mal, machst du deinen Doktor in dem Kram da?«
Er schenkte mir einen lebensmüden Augenaufschlag, saugte verächtlich an seinen Vorderzähnen und las weiter.
Ein kleiner Nager begann an meiner Magenwand zu knabbern. Ich hatte es eilig. Ich hatte keine Zeit für so was. »Ein Typ mit Namen Veide«, sagte ich. »Er hat hier ein paar Tage gewohnt, letzte Woche.«
Stille.
»Hat er eine Adresse hinterlassen – wohin er gefahren ist?«
Erneute Stille, mit schwachem Kopfschütteln.
»Könnte ich sein Zimmer mal sehen?«
Etwas wie Erstaunen tauchte in seinen Augen auf. Er ließ sich dazu herab zu grunzen: »Bist du ein Bulle oder so was?«
»So was Ähnliches.«
»Der Preis ist 75 Kronen am Tag. Das mußt du bezahlen.«
Ich dachte an den Vorschuß, den ich bekommen hatte. Und ich dachte daran, daß der Mann, der mir den Vorschuß gezahlt hatte, derselbe war, der sich Ragnar Veide genannt hatte, und daß der Vorschuß wohl für diesen Fall mein ganzes Honorar sein würde.
»Wenn ich eine halbe Stunde bleibe, kannst du 75 durch 48 teilen, das bezahle ich. Das ist doch wohl gerecht.«
Er wischte sich mit einem schmutzigen Taschentuch über die feuchte Platte. Er seufzte: »Also gut. Aber mach keine Unordnung. Und keinen Dreck. Es ist frisch saubergemacht.«
Ich dachte: Es war 1945 frisch saubergemacht. Aber ich sagte nichts. Ich bekam den Schlüssel und ging wieder an dem alten Schild an der Fahrstuhltür vorbei, auf dem »Defekt« stand.
Zimmer 323
Weitere Kostenlose Bücher