Das Haus mit der grünen Tür
geredet?«
»Noch nicht. Er ist gegen Abend mit dem Flugzeug aus Stavanger zurückgekommen, aber er war so fertig von dem Schock, daß er uns bat, mit einer Erklärung bis morgen warten zu dürfen. Das haben wir ihm gestattet. Wir sind keine Unmenschen«, sagte er und sah seine Pfadfinderjungs an.
»Aber«, begann ich.
»Aber«, fuhr Muus fort. »Das bedeutet nicht, daß wir nicht mit anderen gesprochen hätten. Es gibt mehr Flüge im Vestland als nur den nach Stavanger.« Er hielt meinen Blick mit seinem fest, hart und böse und listig. Dann sah er über meinen Kopf hinweg und sagte: »Holt ihn.«
Vier der Polizisten traten zur Seite, zwei zu jeder Seite, als würden sie bei einer Schulaufführung auftreten und das Rote Meer darstellen, das sich teilte. Und mitten zwischen ihnen stand Jon Andersen und spielte den Moses.
Andersen verschwand mit sorgenvollem Gesicht. Wir anderen warteten. Als er zurückkam, war er nicht allein. Er hatte einen Mann bei sich. Es war ein magerer Mann, mit rotbraunem, kurzem Haar, einem weißen Gesicht mit großen, blassen Sommersprossen, Pupillen wie in Kaffee getauchte Zuckerstückchen und einem Mund wie ein verbeulter Stoßdämpfer. Ich hatte ihn noch nie gesehen.
Der Mann trug ein weißes Hemd und einen dunklen Anzug. Unter der Anzugjacke hatte er einen grauen Pullover, und zwischen Pullover und Gürtel hing ein blutarmer Schlips. Er war ungefähr so breit wie ein Nähfaden. Er blieb an der Tür stehen und sah mich an.
Muus sagte: »Das ist Veum. Haben Sie ihn schon mal gesehen?«
Der Mann schüttelte bestimmt den Kopf. »Nie«, sagte er.
Schon das klang nicht nach einem Westländer.
Muus sagte: »Na, Veum?«
Ich wandte ihm das Gesicht zu.
Er sagte: »Hast du diesen Mann schon mal gesehen?«
Ich antwortete: »Nie. Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern.«
»Ganz sicher?«
»Ganz sicher.« Ich brauchte nicht mehr zu sagen. Ich ahnte schon, was kommen würde. Ich war also nicht erstaunt.
»Darf ich vorstellen: Ragnar Veide«, sagte Muus und lächelte triumphierend.
19
Ragnar Veide sah aus, als warte er darauf, daß etwas geschehen würde. Muus sah aus, als warte er darauf, daß etwas geschehen würde. Die fünf Polizisten sahen aus, als warteten sie darauf, daß etwas geschehen würde. Worauf sie warteten, war, daß ich zusammenbrechen und gestehen würde, Margrete Moberg getötet zu haben.
Aber nichts geschah.
Ich sagte: »Na, na, na. Jemand hat mir einen Streich gespielt.«
Muus sagte, mit einer Ironie schwer wie Beton: »Jemand hat dir einen Streich gespielt.«
Ich sah Ragnar Veide an und versuchte nachzudenken. Unzählige Ideen schwirrten in meinem Kopf herum. Keine davon war sonderlich gut, aber alle kreisten um zwei Namen: Margrete und William. Moberg, der Anwalt.
Muus mümmelte etwas von seiner Zigarre in sich hinein, hob ein paar Papiere hoch und fand, wonach er suchte. Er hielt das Blatt fast senkrecht zur Schreibtischplatte, während er es durchlas. Er sah belustigt aus. Er sagte: »Wir haben dich ja schon länger im Archiv, Veum … Wir haben einen Bericht über dich. Gewalttätigkeit und daraus folgende Körperverletzung …«
»Das Verfahren wurde eingestellt!« schnaubte ich.
Er trieb seinen Spaß noch ein bißchen weiter. »Ja, wurde es. Aber mit dem Erfolg, daß du im Anschluß daran deinen Job quittiertest. Und mit dem Erfolg, daß ich es hier lesen kann.« Er schwenkte den Bericht durch die Luft.
Ich seufzte schwer und betrachtete ein Stück Wand rechts hinter ihm. Es war ein unschönes Stück Wand, aber es war auch nicht die Wand, die ich vor mir sah. Drei, vier verschiedene Bilder waren in mir wie festgefroren, und es gehörte nicht viel dazu, damit ich sie so klar vor mir sah wie alles andere um mich herum.
Das erste Bild war ein junges Mädchen. Sie war fünfzehn Jahre alt und hieß Eva-Beate und war drogenabhängig, seit sie dreizehn war. Sie war eines von »meinen« Mädchen gewesen, und ich hatte sie wieder aufs rechte Gleis gebracht, ich hatte es geschafft, daß sie vom Stoff wegkam. Sie war fast clean, und sie war fünfzehn Jahre alt und blond und schön wie ein Jungentraum im Juni. Und das erste Bild war von ihr. Sie lag nackt auf einem Bett mit schmutzigen Laken. Sie lag nackt da, mit gespreizten Beinen und gähnendem Geschlecht. Ihr Blick ging in eine andere Welt, und auf dem Bett neben ihr lag ein Mann Ende dreißig, mit beginnender Glatze, fettem, ungewaschenem Haar und nacktem, untrainiertem Oberkörper. Er trug nur einen
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