Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
Betrachten hielt ich den Atem an, als befürchtete ich, das Ganze könnte in sich zusammenfallen, wenn ich nur darauf hauchte, und ich kniff die Augen zusammen, um die kleinen weißen Einkerbungen zu mustern, die die Fenster des dreistöckigen Palastes darstellten.
Und dann wallten die Erinnerungen wieder auf.
Ich sah den Zarewitsch vor mir, wie er von den Kolonnaden durch das Geviert rannte, während ihm ein Mitglied der Leibgarde hinterherhastete, außer sich vor Sorge, der Junge könnte hinfallen und sich verletzen.
Ich sah seinen Vater im Arbeitszimmer im ersten Stock, wie er sich mit seinen Generälen und dem Ministerpräsidenten beriet, sein Bart grau gesprenkelt, mit blutunterlaufenen Augen, die verrieten, wie sehr ihm die Hiobsbotschaften von der Front zu schaffen machten.
In einem Raum im Stockwerk darüber stellte ich mir die Zarin vor, wie sie auf ihrem Betpult kniete, und den Starez, wie er vor ihr stand und düstere Beschwörungen murmelte, während sie sich vor ihm zu Boden warf wie eine einfache Bauersfrau ganz ohne kaiserliche Würde.
Und dann sah ich einen jungen Mann, einen Muschik aus Kaschin, der auf den Innenhof trat und sich eine Zigarette anzündete, als er draußen in der kalten Luft stand, und der die Gesellschaft eines Kameraden von der Leibgarde zurückwies, da er mit seinen Gedanken allein sein wollte, um nach einer Möglichkeit zu suchen, wie er die überwältigende Liebe ersticken konnte, die er für ein Mädchen empfand, das für ihn völlig außer Reichweite war, eine Liaison, die, wie er wusste, absolut unmöglich war.
Ich schüttelte die Kugel, und die Schneeflocken, die bis dahin friedlich auf dem Boden geruht hatten, stiegen im Wasser empor, schwebten schwerelos bis zum Dach des Palastes, bevor sie langsam wieder herabsanken. Die Menschen aus meiner Vergangenheit traten hervor und blickten mit ausgestreckten Händen gen Himmel, wobei sie, endlich alle wieder vereint, einander anlächelten und sich wünschten, dass dieser Moment nie vergehen, dass die Zukunft niemals anbrechen würde.
Ich drehte mich zu Soja um, zutiefst gerührt von dem Geschenk, das sie natürlich ausgesucht und gekauft hatte. »Das ist einfach unglaublich«, sagte ich mit einer Stimme, die meine plötzliche Gefühlsaufwallung verriet.
»Das habe ich in einem Juwelierladen in der Nähe des Trafalgar Square entdeckt«, sagte sie und trat zu mir ans Fenster, wo sie ihren Kopf sanft an meine Schulter schmiegte, während ich die Kugel vor uns in die Höhe hielt. Der Schnee fiel nach wie vor; der Palast stand nach wie vor; die Familie atmete nach wie vor. »Sie hatten ein ganzes Regal davon«, erzählte sie mir. »Natürlich nicht nur das Winterpalais, sondern Wahrzeichen von allen möglichen Hauptstädten. Das Kolosseum. Den Tower von London. Den Eiffelturm.« Sie hielt einen Moment inne, bevor sie zu mir aufblickte. »Aber ich habe diese Kugel nicht ausgesucht, Georgi, ich schwöre es dir. Ich habe zu Arina gesagt, sie solle sich die aussuchen, die ihr am besten gefiel, und sie entschied sich für St. Petersburg.«
Ich sah sie überrascht an und kam nicht umhin zu lächeln.
»Es kam nur so unerwartet«, sagte ich mit einem Kopfschütteln. »Das ist …«, ich dachte kurz darüber nach und errechnete die Zeit im Kopf. »Das ist fast zwanzig Jahre her, ist das zu fassen? Ich war damals so jung. Noch ein Junge.«
»Du bist doch noch immer jung, Georgi«, sagte sie mit einem Lachen und fuhr mir mit den Fingern durchs Haar. Es war schön, sie so glücklich zu sehen. Das waren unbeschwerte Jahre, mit unserer kleinen Arina, dem unerwartetsten Geschenk von allen, an unserer Seite. »Aber wie dem auch sei, auch ich werde älter«, fügte sie hinzu. »Ich werde bald Falten bekommen. Mich in eine alte Frau verwandeln. Wie wirst du mich dann wohl sehen?«
»So wie ich dich immer gesehen habe«, erwiderte ich und küsste sie, wobei ich sie in die Arme nahm und gleichzeitig die Kugel festhielt, bis wir durch unsere Tochter getrennt wurden, die sich zwischen uns beide zwängte, da sie diesen Glücksmoment mit uns teilen wollte.
»Papa«, sagte sie, nun in dem ernsten Tonfall, dessen sie sich immer bediente, wenn sie eine ihrer Ansicht nach ungeheuer wichtige Frage an uns hatte. Sie wollte wissen, welches Geschenk mir besser gefalle.
»Sie gefallen mir beide gleich gut«, sagte ich, denn ich wollte mich nicht für eins entscheiden müssen. »So wie ich euch beide auch gleich lieb habe«, fügte ich hinzu, und dann hob
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