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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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Anastasia voller Ehrfurcht an, als wäre die Jungfrau Maria vom Himmel herabgestiegen, um leibhaftig am Ufer der Newa unter uns zu wandeln. Sie hatte Anastasia erkannt, so viel stand fest. Und wie die meisten Muschiks war auch dieses Mädchen überzeugt davon, Gott höchstselbst habe den Zaren und seine Familie in ihre Position eingesetzt. Ich hielt den Atem an, darauf gefasst, dass sie gleich losschreien und uns verraten würde, doch sie beherrschte sich und schüttelte den Kopf, um die Benommenheit zu verscheuchen, die von ihr Besitz ergriffen hatte – und dann trat sie einen Schritt vor und nahm Anastasias Hand in ihre und drückte sie für einen Moment, bevor sie auf den feuchten Pflastersteinen vor ihr niederkniete. Ich starrte auf diese wunderschöne junge Frau, deren Gesicht von wem oder was auch immer so schrecklich entstellt worden war, und als ich sah, wie sie ihre Lippen gegen die blasse, makellose Hand meines Mädchens drückte, fragte ich mich, ob ich wachte oder träumte. Nach einer kurzen Weile schaute sie zu Anastasia auf, und dann neigte sie den Kopf vor ihr.
    »Darf ich um Euren Segen bitten?«, fragte sie, und Anastasia sperrte überrascht die Augen auf.
    »Meinen …?«, begann sie.
    »Bitte, Euer Hoheit.«
    Anastasia zögerte, rührte sich aber nicht. »Nun, hier hast du ihn«, sagte sie schließlich und lächelte sanft, als sie sich nach vorn beugte und das Mädchen umarmte. »Und was immer er wert ist, er möge dir Frieden bringen.«
    Das Mädchen lächelte und nickte, bevor sie ihren kriegsbeschädigten Freund bei der Hand nahm und mit ihm verschwand, ohne dass die beiden noch irgendetwas zu uns gesagt hätten. Anastasia drehte sich zu mir um und lächelte mich an, ihre Augen feucht von Tränen.
    »Es wird kalt, Georgi«, sagte sie.
    »Ja.«
    »Lass uns heimgehen.«
    Ich nickte und nahm sie bei der Hand. Schweigend kehrten wir zum Palast zurück, ohne auch nur ein weiteres Wort über Anastasias Heiratsaussichten zu verlieren. Wir kamen aus völlig verschiedenen Welten, so einfach war das. Unsere Herkunft und das, was wir waren, konnten wir genauso wenig verändern wie unsere Augenfarbe.
    Als wir auf den Palaisplatz traten, gaben wir uns zum Abschied einen letzten traurigen Kuss, und dann strebte ich in Richtung der Türen, hinter denen sich der Treppenaufgang zu meinem Zimmer befand. Als ich zu den dunklen, unbeleuchteten Fenstern hinaufschaute, bemerkte ich eine schemenhafte Gestalt, die mich vom dritten Stock aus beobachtete, doch als ich die Augen zusammenkniff und blinzelte, um erkennen zu können, wer dort oben stand, übermannte mich schließlich die Erschöpfung, und die Erscheinung schien sich aufzulösen und zu verschwinden, als wäre sie nichts weiter als ein Trugbild gewesen. Ich dachte nicht weiter darüber nach, sondern begab mich in mein Zimmer, wo ich mich unverzüglich ins Bett legte und auf der Stelle einschlief.

1935
    Ein Augenblick unbeschreiblichen Glücks.
    Soja und ich sitzen auf unserem Bett im Giebelzimmer einer belebten Pension in Brighton, wo wir einen einwöchigen Urlaub verbringen, und sie hat mir gerade ein neues, tadellos gearbeitetes Oberhemd zum Geburtstag geschenkt. Eine Reise wie diese gibt es bei uns nur alle Jubeljahre – unsere Tage, Wochen und Monate sind stets angefüllt mit Arbeit, Verpflichtungen und Geldsorgen, sodass wir uns einen Luxus wie Ferien an der See normalerweise nicht leisten können. Doch Soja hatte vorgeschlagen, dass wir London für ein paar Tage verlassen und uns eine kurze Pause von unserem Alltagstrott gönnen sollten – an einem Ort, wo wir ausgedehnte, entspannte Mittagsmahlzeiten in Straßencafés genießen könnten, ohne auf die Uhr schauen zu müssen, an einem Ort, wo wir Hand in Hand am Strand entlangspazieren konnten, während Kinder lachten und auf den Kieselsteinen herumtollten –, und ich hatte Ja gesagt, ohne auch nur einen Moment zu zögern. Ja , das machen wir. Ja , wann wollen wir aufbrechen?
    Unsere Reise fiel mit meinem sechsunddreißigsten Geburtstag zusammen, und als ich an jenem Morgen aufwachte, wurde mir bewusst, dass ich inzwischen mehr Jahre in der Fremde verbracht hatte als zu Hause bei meiner Familie in Kaschin – ein Gedanke, der meine ansonsten gute Laune mit einer Mischung aus Bedauern und Scham zu trüben drohte. Es kam nicht oft vor, dass ich mir die Gesichter meiner Eltern und Schwestern wieder vergegenwärtigte – ich war ein schlechter Sohn gewesen, daran bestand kein Zweifel, und ein noch

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