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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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nach Dänemark geflohen, andere nach Griechenland. Die robusteren Naturen hatten womöglich das europäische Festland durchquert und sich nach England eingeschifft, wie es der Zar vorgehabt hatte. Sie waren jedenfalls nicht hier. Nicht mehr.
    Die Flussufer, an denen es einstmals von Equipagen gewimmelt hatte, die ihre reichen Insassen zum Schlittschuhlaufen zu den zugefrorenen Seen oder zu geselligen Abenden in ihren Herrenhäusern transportierten, waren nun verwaist, einmal abgesehen von den Bauern, die das Trottoir entlanghasteten, verzweifelt darauf bedacht, nach Hause zu gelangen, der Kälte zu entfliehen und die kümmerlichen Speisereste zu vertilgen, die sie tagsüber in der Stadt hatten auftreiben können.
    Es war klirrend kalt in jenem Winter, daran erinnere ich mich noch. Die Luft auf dem Palaisplatz war dermaßen frostig, dass mir jeder Windstoß in die Wangen, die Ohren und die Nasenspitze biss und ich mir die Fingernägel tief in meine Handteller bohrte, um mich davon abzuhalten, vor Schmerz laut aufzuschreien. Ich stand im Schatten der Kolonnaden, und als ich auf mein einstiges Domizil blickte, musste ich daran denken, wie sehr sich die Dinge verändert hatten, seitdem ich hier vor zwei Jahren angekommen war, so naiv und arglos, so begierig auf ein anderes Leben als das, das ich in Kaschin zu ertragen gehabt hatte. Was würde meine Schwester Asja jetzt von mir halten, wie ich hier an einer Mauer kauerte, die Arme fest um mich geschlungen, um mir wenigstens etwas Wärme zu verschaffen?
    Wahrscheinlich würde sie mich kein bisschen bedauern, sondern denken, dies geschehe mir ganz recht.
    Ich wusste nicht, wie es der kaiserlichen Familie ergangen war, und unterwegs, als ich von Dorf zu Dorf gezogen war, hatte ich über ihr Schicksal herzlich wenig in Erfahrung bringen können. Ich vermutete, dass man sie eine Zeit lang festgehalten und dann, Anastasias schlimmste Befürchtung, ins Exil geschickt hatte, dass man sie über das europäische Festland nach England verbracht hatte, wo König Georg sie zweifellos mit einer familiären Umarmung empfangen hatte, um sich anschließend zu fragen, was um Himmels willen er nun mit diesen Romanows anfangen sollte.
    Natürlich spukte mir Anastasias Gesicht fortwährend im Kopf herum, nicht nur am Tage, wenn ich unterwegs war, sondern auch während der Nacht, wenn ich zu schlafen versuchte. Ich träumte von ihr, und ich verfasste im Geist Briefe und Sonette sowie allerlei törichte Poesie. Ich hatte ihr geschworen, dass ich sie nie im Stich lassen würde, dass ich, was immer geschehen mochte, für sie da wäre. Doch seit wir uns zum letzten Mal gesehen hatten – in jener Nacht, als sie mich, bedrückt vom Unglück ihrer Familie, in meiner Kammer im Winterpalais besucht hatte –, waren fast neun Monate verstrichen. Wir hatten nicht gedacht, dass dies ein Abschied sein würde, doch der Zar hatte beschlossen, am darauffolgenden Morgen in aller Frühe abzureisen, bevor seine Familie aufgestanden war, und es war meine Pflicht gewesen, ihn zu begleiten. Ich malte mir oft aus, wie aufgeregt Anastasia gewesen sein musste, als sie nach dem Aufstehen festgestellt hatte, dass ich verschwunden war.
    Ob sie wohl von mir träumte, so wie ich von ihr träumte, wenn ich in Scheunen und Ställen übernachtete und durch die Ritzen zwischen den Holzbrettern über mir den Sternenhimmel sah? Schlief sie vielleicht zur selben Zeit ein und blickte dabei auf einen silbern funkelnden Himmel über London? Fragte sie sich, wo ich wohl sein mochte, und stellte sie sich genauso vor, ich würde unter demselben Nachthimmel liegen wie sie? Und ihren Namen vor mich hin flüstern und sie bitten, mir zu vertrauen? Das waren schwere Tage. Hätte ich ihr schreiben können, so hätte ich es getan, doch wohin hätte ich den Brief schicken sollen? Wäre es möglich gewesen, sie zu treffen, so wäre ich durch Wüsten und Einöden marschiert. Doch wohin hätte ich gehen sollen? Ich hatte nicht den geringsten Anhaltspunkt, und nur hier, nur in St. Petersburg – ja, für mich würde es immer St. Petersburg sein, nie Petrograd – konnte ich vielleicht jemanden finden, der mir meine Fragen beantwortete.
    Ich hielt mich schon fast eine Woche in der Stadt auf, als ich endlich einen Fingerzeig erhielt. Ich hatte mir gerade ein paar Rubel verdient, indem ich geholfen hatte, Fässer mit Getreide zu entladen und in der Vorratskammer eines neuen, von der Regierung eingerichteten Lagerhauses zu verstauen, und beschlossen,

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