Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
wegschaute. »Und die Großfürstin, also die, die du liebst – ihre Geschichte ist noch lange nicht abgeschlossen.«
Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, und deshalb hielt ich lieber den Mund. Ich war kein abergläubischer Mensch, und von Hellseherei oder dem Zweiten Gesicht alter Frauen hielt ich rein gar nichts. Der Starez hatte mich damit nicht beeindrucken können, und einer Bauersfrau aus Wjatka würde dies auch nicht gelingen. Trotzdem hoffte ich inständig, dass sie recht hatte.
»Der Zar ist hier einmal durchgereist, weißt du?«, sagte sie zu mir, bevor ich ging. »Als ich noch ein junges Mädchen war.«
Ich runzelte die Stirn, denn sie war eine ältere Frau. Ich konnte es kaum glauben.
»Nicht dein Zar«, sagte sie, wobei sie kurz lachte. »Sein Großvater, Alexander II . Das war nur wenige Wochen, bevor er getötet wurde. Er kam und ging wie der Blitz. Die ganze Stadt war erschienen, um ihn zu sehen, doch er nahm kaum von uns Notiz und galoppierte auf seinem Ross einfach an uns vorbei, aber trotzdem hatten wir alle das Gefühl, uns habe die Hand Gottes berührt. Das kann man sich heute kaum noch vorstellen, nicht wahr?«
»Ja, kaum«, räumte ich ein.
Am darauffolgenden Tag brach ich auf, und ich hatte das Glück, während des Rests meiner Reise gesund zu bleiben. Anfang Juli traf ich in Tobolsk ein. In der Stadt wimmelte es von Bolschewiki, aber keiner von ihnen interessierte sich für mich. Sie suchten nicht mehr nach mir. Ich war schließlich nur ein kleiner Gefolgsmann gewesen, ein Niemand. Falls sie jemals vorgehabt hatten, mich nach der Verhaftung des Zaren dingfest zu machen, so hatten sie schon lange davon Abstand genommen.
Die Residenz des Gouverneurs ausfindig zu machen, war ein Kinderspiel. Als ich mich ihr am Spätnachmittag näherte, hatte ich erwartet, das Haus schwer bewacht vorzufinden. Ich war mir nicht ganz sicher gewesen, was ich tun sollte, wenn ich dort eintraf, doch ich hatte mir irgendwie vorgestellt, dass ich einfach fragen würde, ob ich den Zaren sehen dürfe – oder Nikolaus Romanow, wenn sie darauf bestanden –, um mich ihm dann als Diener zur Verfügung zu stellen, sodass ich Anastasia jeden Tag sehen könnte, bis man sie alle ins Exil schickte.
Die Situation war jedoch nicht so, wie ich es erwartet hatte. Es standen keine Automobile vor dem Haus, und es gab dort nur einen einzigen Soldaten, der sich gegen den Zaun lümmelte und herzhaft vor sich hin gähnte. Er musterte mich, als ich mich näherte, und kniff gereizt die Augen zusammen, zeigte ansonsten aber kein Interesse an mir. Er machte sich noch nicht einmal die Mühe, sich gerade hinzustellen.
»Guten Abend«, sagte ich.
»Genosse.«
»Ich frage mich … also, ist das die Residenz des Gouverneurs?«
»Wieso willst du das wissen?«, fragte er mich. »Wer bist du überhaupt?«
»Mein Name ist Georgi Daniilowitsch Jatschmenew«, sagte ich. »Ich bin der Sohn eines Bauern aus Kaschin.«
Er nickte und drehte seinen Kopf kurz zur Seite, um auf den Boden zu spucken. »Hab’ noch nie von dir gehört«, sagte er.
»Das habe ich auch nicht erwartet. Aber dein Gefangener kennt mich.«
»Mein Gefangener?«, fragte er und lächelte ein wenig. »Und welcher Gefangene soll das bitte sein?«
Ich seufzte. Ich hatte keine Lust auf irgendwelche Spielchen. »Ich habe eine langen Marsch hinter mir«, sagte ich. »Genauer gesagt, den ganzen Weg von St. Petersburg bis hierher.«
»Du meinst, von Petrograd?«
»Ja, von mir aus auch Petrograd.«
»Zu Fuß?«, fragte er und zog eine Augenbraue hoch.
»Ja, größtenteils«, gab ich zu.
»Na schön. Und was willst du hier?«
»Bis zum letzten Jahr habe ich im kaiserlichen Palast gearbeitet«, erklärte ich. »Ich habe für den Zaren gearbeitet.«
Er zögerte, bevor er etwas erwiderte. »Es gibt keinen Zaren«, sagte er dann in einem scharfen Tonfall. »Du hast allenfalls für den ehemaligen Zaren gearbeitet.«
»Na, dann eben für den ehemaligen Zaren. Ich habe gedacht … also, ich habe mich gefragt, ob ich ihm vielleicht meine Aufwartung machen kann.«
Er runzelte die Stirn. »Das kannst du natürlich nicht«, sagte er. »Hast du noch alle Tassen im Schrank, Jatschmenew? Denkst du, die Romanows dürfen irgendwelche Besucher empfangen?«
»Aber ich stelle für niemanden eine Bedrohung dar«, sagte ich und breitete meine Arme aus, um ihm zu zeigen, dass ich keine versteckten Waffen oder Geheimnisse bei mir hatte. »Ich möchte ihnen einfach nur meine Dienste
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