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Das Hausbuch der Legenden

Das Hausbuch der Legenden

Titel: Das Hausbuch der Legenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Adolf Narciss
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Frau ein; ich fand mich vielmehr in einem mir unbekannten Raum wieder. Eines Tages hörte ich von draußen das Geschrei kleiner Kinder, Stimmen und andere Geräusche.
    Ich wollte diesen Tönen nachgehen und lief durch eine Tür. In Wirklichkeit aber wurde ich aus dem Leibe einer Frau wiedergeboren. Ich war noch nicht recht draußen, da wurde ich plötzlich von einem kalten Luftzug getroffen. Ich begann zu schreien. Ich wurde aufgezogen und lernte vor allem fasten.
    Als ich groß war, zog ich in den Kampf. Sicherlich habe ich meinen Tod und den Tod meiner Verwandten gerächt; denn zu diesem Zweck bin ich ja wieder auf die Erde gekommen. Ich lebte sehr lange, bis ich an Altersschwäche starb. Meine Knochen lösten sich in den Gelenken, meine Rippen fielen ein.
    Der Schmerz war nicht größer als bei meinem ersten Tod.
    Dieses Mal wurde ich ordentlich begraben. Man hüllte mich in eine Decke und legte mich ins Grab. Wie es damals üblich war, legte man Stöcke unter mich. Ich beobachtete die Leute, die mich beerdigten. Dann verweste ich.
    Während ich so lag, sagte jemand zu mir: »Komm, laß uns fortgehen!« Wir gingen wieder an den Ort, an dem die Sonne untergeht. In einem Dorf trafen wir alle anderen Toten. Ich sollte vier Nächte dort bleiben; in Wirklichkeit blieb ich aber vier Jahre. Es war ein sehr vergnüglicher Ort. Wir tanzten die ganze Zeit. Dann kamen wir in das Dorf, in dem der
    Erdmacher lebt, der große Geist. Ich sah ihn und sprach mit ihm so, wie ich jetzt mit dir spreche. Ich sah auch die Geister, und ich war selber einer der Geister. Von dort kam ich eines Tages zum dritten Mal auf die Erde. Hier bin ich. Alles, was ich hier erlebe, kenne ich schon von früher her.

    Die blutige Hand

    AUF DEN WÄNDEN der alten Tempel des Mayab, in den toten Städten, findet sich oft der Abdruck einer blutigen Hand.
    Wenn du sie noch nie zuvor gesehen hast, dann wird beim Anblick der Hand das kalte Wasser des Entsetzens deinen Körper feuchten.
    Und wenn du sie schon kennst, dann wirst du nicht
    unterlassen, schweigend und nachdenklich vor ihr stehen zu bleiben. Rot ist die Menschenhand, die in der Höhe des erhobenen Armes eines stehenden Mannes auf die Wand gemalt ist, sei es auf feinen Stuck, sei es auf geglätteten Stein.
    Es ist so, als hätte ein Mann seine Hand in Blut getaucht und sie dann mit der Innenfläche gegen die Mauer gepreßt. Es ist etwas, das erzittern macht.
    Du betrittst, mit dir allein, den Tempel und gehst langsam weiter, bis du zur blutigen Hand kommst. Da ist sie, und du siehst sie ganz rot im Schatten des Saales – geheimnisvoll wie ein Zeichen auf dem Grunde der Zeit und voll Majestät wie das Bild eines Gottes. Was denkst du?
    Es ist ein seltsames Rätsel, das dich aus der Tiefe und dem Dunkel befragt, und du antwortest mit Fragen. Sonst nichts. Du denkst daran, daß man dir erzählt hat, es sei das Zeichen eines Prinzen, der seinen Bruder tötete und dann durch alle Städte ging, herumirrend und traurig, und der, wo immer er sich aufstützte, den Abdruck seiner blutigen Hand zurückließ. Du denkst daran, daß man dir sagte, diese Hand sei das Siegel der Herrschaft der siegreichen Krieger über die besiegten Städte, als der große Mayab seinem Ende zuging. Du denkst all das, was einem einfällt, der vor einem seltsamen und uralten Dinge steht, das er nicht begreift. Die alten Indios, die du fragst, schweigen und senken das Haupt und sagen nichts. Vielleicht wissen sie es, aber sie sagen es nicht. Wenn einer darüber spräche, so würde er dir sagen, daß diese Menschenhand von keinem Menschen dort aufgedrückt wurde. Und vielleicht würde der, welcher so redet, etwas Wahres sagen.
    Viele Hände gibt es von diesen, die als rote Sinnbilder die alten, verlassenen Tempel in der ganzen Breite und Höhe ihrer Mauern aus schweigendem Stein kennzeichnen. In den leeren, dunklen Sälen gibt es nichts Redendes als diese Hände, die zu leben scheinen und ohne Stimme sprechen. Du hörst sie, aber du verstehst sie nicht.
    Dort erschienen sie vor mehrmals tausend Jahren und zeigten sich plötzlich und sprachen zu jenen, die sie verstehen konnten. Ihr blutiges Zeichen ist nicht nur auf der Oberfläche, sondern dringt durch den Kalkbewurf und den dicken Stein und kommt manchmal sogar auf der anderen Seite heraus, als ob die Mauer das Blut des roten Zeichens aufgesaugt hätte und man im ganzen breiten Körper der Wand innen in gleicher Weise gemalt hätte. Wenn du Mut hast, zerbrich einen dieser alten

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