Das Hausbuch der Legenden
Weiber kamen in diesem Jahr mit Kindern nieder, die gezeichnet waren; neun unschuldige Kinder wurden um ihr Leben gebracht, nur um den Propheten Lügen zu strafen. Spät im Jahr wurde ein zehntes Kind mit den gleichen Zeichen geboren. Die neun Väter aber, die ihre Kinder geopfert hatten, konnten den Verlust nicht verschmerzen. Sie weinten und stimmten dafür, daß dieses Kind am Leben bleiben solle. Sie sagten: »Seht ihr denn nicht, daß Salech mit seinen
Prophezeiungen auf unseren Eigensinn baut? Seit dreißig Jahren nimmt er uns die Hälfte des Wassers für seine Kamele, nun will er uns auch noch die Kinder rauben!« Und sie ließen das Kind am Leben und beschworen zugleich den Untergang des Propheten. Als die Väter der ermordeten Kinder zwölf Jahre später den gut entwickelten schönen Knaben sahen, stieg in ihnen der alte Zorn gegen den Propheten auf, und sie beschlossen, an ihm Rache zu nehmen. Sie lauerten ihm in einer dunklen Nacht auf, um ihn zu töten. Aber der Fels stürzte über ihnen zusammen und begrub sie. Das Volk war empört über den Verlust der Brüder. Seine ganze Wut richtete sich nun wider den Propheten. »Weg mit ihnen, weg mit Salech und seinen Kamelen! Wir wollen ihn nicht, wir brauchen keine Kamele!« Der Aufruhr erfaßte immer weitere Kreise, der Aufruhr erfaßte den ganzen Stamm Thamud. Darum ist es ungewiß, ob der kleine zwölfjährige Knabe mit den roten Haaren und den Katzenaugen die Kamelin am Brunnen tötete, weil er wirklich bösartig war. Haben ihn nicht der Zorn, die Rachegelüste, die bösen Gedanken des ganzen Stammes zu dieser Untat gezwungen? Salech aber rief: »Habe ich es euch nicht vorausgesagt, daß ihr das Kamel töten werdet? In drei Tagen kommt über euch das Gericht des Herrn! Das junge Kamel ist in die Felsen geflohen. Bringt wenigstens das Junge zurück!« Sie folgten den Spuren des jungen Kamels in die Felsen, aber sie sahen es nicht; sie hörten dreimal seine fürchterlichen Wehrufe, aber sie fanden es nicht.
Nach drei Tagen erhob sich von der Wüste her der Samum.
Er fuhr über die Felsen, die unter seinem Hauch erglühten. Mit gelben Gesichtern flüchteten die Bewohner der Steinstadt in ihre Felsenhöhlen. Die Nacht brachte keine Erfrischung, keine Abkühlung. Am nächsten Morgen zeigte sich keine Sonne, und doch war das Gebirge weithin hell, ein flammender Kessel.
Das Wasser sott in dem Brunnen, das Blut in den Adern, und die Felsen glühten durch und durch. In ihnen brannten die Leute des Stammes Thamud mit roten Gesichtern. Am dritten Morgen verfinsterte sich der Himmel, er war voll Asche und Rauch wie ausgebrannte Kohle. Heißer und mit jedem Hauch heißer stieß die Hölle ihren Odem aus: es gor und glomm und sott und schmolz bis in den tiefsten Abgrund, Gluten ohne Glanz und Flammen ohne Schein. Ein fürchterliches
Getümmel, Donnerhall und Felsenbersten, untermischt mit Sturmgeheul! Dazwischen das Geschrei des unsichtbaren Kamels! Die Leiber der Leute des Stammes Thamud wurden mit eingeschmolzen oder schrumpften zu schwarzen Mumien zusammen. Im Koran steht: »Sie taten Frevel, und es erscholl der Schall, und der Morgen fand sie erstarrt in ihren Wohnungen.« Nur Salech und alle, die seinen Lehren glaubten, wurden gerettet. Als Muhammed auf seinem Zug gegen Tebub in dieses Tal kam und die Kamele am Brunnen gewässert waren, wollten mehrere seiner Gefährten die Felsengrotten besuchen, um die Reste des Stammes Thamud zu sehen. Der Prophet verbot aber, die Wohnungen eines Volkes zu
besuchen, das den Zorn des Herrn auf sich geladen hatte. Er ließ die Kamele antreiben und zog mit beschleunigtem Schritt durch das Tal. Seitdem befolgen alle Karawanen das Beispiel des Propheten und ziehen, ohne sich aufzuhalten, schnell vorbei und machen großen Lärm, um das Geschrei des
verirrten Kamels nicht zu hören.
Harut und Marut
GOTT MACHTE seinen Himmel weit auf, damit seine Engel sehen konnten, was die Menschenkinder unten auf der Erde trieben. Und die Engel wunderten sich sehr, daß die Menschen Unrecht taten, obgleich sie doch die Gebote Gottes kannten, obgleich der Herr ihnen Propheten, Bücher und Zeichen gab.
Darum sagten sie eines Tages zu Gott: »O Herr, die Kinder Adams, die Du mit Deiner Hand geschaffen hast, denen Du Deine Engel dienstbar gemacht hast, denen Du die Namen aller Dinge gegeben hast, die Menschen handeln sündhaft! Du hast sie erhöht und als Deine Stellvertreter in die Welt geschickt.
Aber sie erfüllen ihre Pflicht nicht, sie
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