Das Hausbuch der Legenden
handeln gegen Deinen Befehl, sie unterlassen es, Dich zu preisen, sie bekennen sich nicht zu Dir. Warum hast Du nicht Deine Engel geschickt? Wir hätten Deine Gebote erfüllt! Wir hätten Dir fromm und gottesfürchtig gedient!« Als der Allmächtige und Erhabene diese Rede hörte, sagte er: »Ich habe den Menschen zehn Begierden gegeben. Diese zehn Begierden verleiten sie dazu, sich gegen mich zu vergehen.«
Da erwiderten die Engel: »O Herr, wenn Du uns die zehn Begierden gibst und uns hinabsteigen läßt, dann werden wir dort in Gerechtigkeit richten!« Da befahl Gott: »Wählt unter euch die zwei zuverlässigsten Engel. Ich werde ihnen dann die zehn Begierden geben, und sie sollen richten unter den Menschen! Sie sollen menschliche Gestalt annehmen und unter den Menschen leben. Immer wenn sie den ›größten Namen‹
nennen, werden eure Abgesandten nach Belieben zum Himmel fliegen und wieder auf die Erde hinabsteigen können. Dieser Name ist mein Geheimnis. Er darf den Menschen nicht
verraten werden.« Und Gott erinnerte die Engel an das Verbot, Gott einen Genossen zu geben, zu stehlen, zu buhlen, Wein zu trinken und eine Seele wider das Gesetz des Herrn zu töten.
Die Engel berieten lange, wen sie auf die Erde schicken sollten. Schließlich wählten sie Harut und Marut. Die beiden Engel nahmen Menschengestalt an und wurden in die Welt gesandt, in die Stadt Babil. Dort lernten sie die Sitten dieser Welt kennen. Aber sie blieben Gottes gehorsamste Diener.
Eines Tages begegneten sie zwei ungewöhnlich schönen Dirnen, die sie mit ihrem Gesang und mit ihrem Tanz
bezauberten. Die beiden Mädchen waren klug und erkannten alsbald, daß Harut und Marut über magische Kräfte verfügten, mit denen sie zum Himmel fahren und wieder zurückkehren konnten. Die Jünglinge gaben den Mädchen bereits süße Worte und wollten sie verführen. Die Mädchen aber wollten hinter die Geheimnisse der beiden jungen Männer kommen und
stellten listig die Bedingung, daß sie zuvor mit ihnen Wein trinken müßten. Harut und Marut widerstanden lange. Mit der Zeit aber gewöhnten sie sich so sehr an die weltlichen Genüsse, daß sie vergaßen, Gott zu preisen und sich zu ihm zu bekennen. Damit lockerte sich das Band, das sie unmittelbar mit ihrem Herrn verbunden hatte. Ihr Durst nach einer Liebesvereinigung wuchs immer mehr, und so stillten sie zuvor einen Durst, den sie gar nicht empfanden, und tranken Becher um Becher. Der Wein schmeckte ihnen bitter. Zuletzt waren sie so trunken, daß ihnen der Saum des Verstandes aus den Händen glitt. Die frechen Dirnen nützten die Gelegenheit, und die Engel verrieten ihnen zuletzt den »größten Namen«.
Die Dirnen sprachen ihn nach und fuhren sofort gen Himmel.
Dann aber ließ der Herr sie den »größten Namen« vergessen.
Sie konnten ihn nicht mehr aussprechen und nie wieder auf die Erde zurückkehren. Seither stehen sie als Sterne am Himmel.
Harut und Marut aber machten vergebliche Anstrengungen, wieder aufzusteigen. Ihre Flügel trugen sie nicht mehr. In ihrer Verzweiflung suchten sie Hilfe bei den Menschen. Sie traten in das Haus eines Frommen und baten ihn, für sie zu beten. Er fragte sie, wie denn ein Erdbewohner für die
Himmelsbewohner bitten könne. Da eröffneten sie ihm, daß Gott seiner im Himmel gern und im guten gedacht habe.
Daraufhin versprach der Fromme ihnen, einen Tag und noch einen Tag für sie zu beten. Er wurde erhört. Gott ließ Harut und Marut die Wahl zwischen der Strafe in dieser Welt und der Strafe in jener Welt. Da sprachen sie: »Die Strafe dieser Welt geht zu Ende, die Strafe in jener Welt aber ist ohne Ende.«
Und sie baten um die Strafe in dieser Welt. Sie wurden von den Füßen bis zum Hals gefesselt wie die baktrischen Kamele.
Sie hängen jetzt in einem Brunnen zu Babil, und dort werden sie hängen bis zum Jüngsten Gericht.
Höhere Gerechtigkeit
HUSAIN IBN MANSUR wurde seines Glaubens wegen
gekreuzigt und getötet. Nach seiner Hinrichtung erschien er dem frommen As-Sibli im Traume. As-Sibli fragte den Toten:
»Was hat Allah mit dir getan?« Husain Ibn Mansur antwortete:
»Er hat mich erniedrigt und hat mich geehrt.« Darauf fragte As-Sibli weiter: »An welchem Ort hat er dich erniedrigt?« Er bekam die Antwort: »Im Paradies oder, wie es in der
vierundfünfzigsten Sure des Koran heißt: am Sitze der Wahrhaftigkeit, bei einem mächtigen König.« As-Sibli fragte weiter: »Was hat er mit den Leuten getan, die deiner Hinrichtung beiwohnten?«
Weitere Kostenlose Bücher