Das Hausbuch der Legenden
Stellvertreter Gottes wird mich mit Sünden und Blut beflecken, er wird sich gegen den Herrn empören, er wird mich zum Mitschuldigen seiner Verbrechen machen!«
Gabriel kehrte unverrichteter Dinge zum Herrn zurück und trug ihm die flehentliche Bitte der Erde vor. Gott erteilte darauf dem Engel Michael den Auftrag. Aber auch Michael kam mit leeren Händen zurück. Da schickte der Herr den Engel Israfil, der die Tafel des Schicksals bewahrt und dereinst das letzte Gericht verkünden wird. Aber auch ihn bewegten die Bitten der Erde so sehr, daß er seinen Auftrag nicht durchführen konnte. Da gab der Herr den Befehl an Asrael, den Todesengel, der einmal jedem Leben Einhalt gebietet und den Körper von der Seele trennt. Asrael war unerbittlich; ihn bewegten die Tränen nicht; er nahm eine Handvoll Erde, und das sind vierzig Joch; denn so viel faßt die Hand des Todesengels. Aus diesem mannigfaltigen Gemisch schuf Gott den Körper des ersten Menschen. Die Engel mußten das noch unförmige Gebilde auf die Erde tragen. Dort lag es an die vierzig Jahre unter den belebenden Strahlen der Sonne, deren Kraft erst die schöne menschliche Gestalt vollendete. Die Engel kamen in Haufen, um diesen seltsamen unbeseelten Körper zu bestaunen, und keinen bewegte die Frage nach dem Wesen dieses neuen Geschöpfes mehr als Iblis, den stolzen Hüter der Erde. Als der Mund und die Nasenhöhlen geformt waren, kroch er hinein; er schlüpfte durch alle Adern und Höhlungen, aber sie waren hohl und leer, ohne Leben und Geist, und er sagte zu den Engeln, die seine Gehilfen waren:
»Das ist nichts! Was soll schon kommen aus diesem leeren Gefäß? Sollte das der Stellvertreter des Herrn auf Erden werden, dann verjage ich ihn, wie ich das Geschlecht der Dschinnen verjagt habe! Was meint ihr dazu?« Die Engel aber antworteten: »Der Herr hat uns als Gehilfen zu dir geschickt, um mit dir die Dschinnen zu vertreiben. Wir gehorchen den Befehlen des Herrn. Er ist dein und unser Herr.« Iblis sah ein, daß die Engel sich nicht gegen die Befehle des Herrn auflehnen konnten, und antwortete: »Es ist gut. Was ihr meint, ist auch meine Meinung.«
Um den Körper zu beleben, befahl der Herr dem Geist, einzuziehen. Als der Geist aber sah, wie eng und finster, wie unwohnlich diese neue für ihn bestimmte Stätte war, weigerte er sich. Da wurde der Herr zornig und befahl ihm: »So zieh denn mit Widerwillen ein, o Geist, und zur Strafe zieh aus mit Widerwillen!« Der Geist mußte gehorchen. Er ging ein durch den Mund, in die Brust, in das Herz. Die Lungen hoben sich, das Blut strömte durch das Herz. Von da stieg er auf in den Kopf, und als er im Gehirn angekommen war, nieste Adam und öffnete die Augen. Gabriel aber, der ihm zu Haupten stand, sagte ihm ins Ohr: »Sage: Lob sei Gott!« Und Adam sprach: »Lob sei Gott!« Und seine Enkel, die Moslem, wiederholen dieses Wort seither, sooft sie niesen.
Sobald er Augen und Mund geöffnet hatte, war des ersten Menschen erste Begier Hunger, er verlangte nach Speise; denn der Geist rumorte schon in seinem Magen. Er konnte aber noch nicht aufstehen, um sich seinen Wunsch selbst zu erfüllen; denn der Geist war noch nicht bis in die Lenden und bis in die Füße vorgedrungen. Erst als der Geist den ganzen Körper beseelt hatte, stand Adam auf, und die Engel sahen zum ersten Mal das Meisterstück der Schöpfung vor sich, jene hohe gegen den Himmel aufgerichtete Gestalt. Und sie priesen den Herrn und riefen: »Lob sei Dir! Wir wissen nur, was Du uns lehrtest; denn Du bist der Wissende, der Weise.« Der Herr aber antwortete: »Ich kenne die Geheimnisse der Himmel und der Erde; ich weiß, was ihr offen kundtut und was ihr verborgen haltet.« Und er lehrte Adam die Namen aller Dinge, der Tiere und Pflanzen und Steine und der Sterne am Firmament. Mit der Herrschaft über alle Tiere und alle anderen Geschöpfe der Erde schenkte er Adam den Reichtum der Sprache. Er befahl den Engeln, dem Vater der Menschen zu huldigen, und rief ihnen zu: »Werfet euch nieder vor Adam!« Und alle Engel warfen sich nieder bis auf Iblis, der sich in seiner Hoffahrt und in seinem Stolz weigerte, den neuen Herrn der Erde
anzuerkennen. Der Herr fragte: »Was hindert dich, dem Menschen zu huldigen?« Iblis aber erwiderte: »Wie könnte ich einem sterblichen Geschöpf huldigen, das Du aus Erde geschaffen hast?« Da sprach der Herr in seinem Zorn: »So verlasse die Erde, Verruchter und sei verflucht bis zum Tag des letzten Gerichts!« Und Iblis verlor
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