Das Hausbuch der Legenden
wo ist jetzt deine Barmherzigkeit? Ist denn deine ganze Frömmigkeit nur Schein gewesen?« Da war ich sehr betrübt und weinte und betete zum Herrn, er möge mich aus dieser Not lösen und zu sich nehmen. –
Am selben Tag schmähten in Ekbatana in Medien die Mägde Sarah, die Tochter Raguels. Asmodäus, der eifersüchtige böse Geist, tötete alle Männer, die ihr zugeführt wurden, noch ehe sie sich ehelich mit ihr verbinden konnten. Die Mägde schrien:
»Was ist in dich gefahren, daß du deine Männer umbringst?
Sieben hast du schon gehabt, und nach keinem von ihnen bist du genannt! Mit welchem Recht schlägst du uns? Wenn sie schon starben, dann geh du mit ihnen. Nie wollen wir ein Kind von dir sehen!« Sarah war so betrübt, daß sie sich erhängen wollte. Dann betete aber auch sie zu Gott und bat ihn, sie zu sich zu nehmen oder sich ihrer zu erbarmen, damit sie nie mehr diese Schmähungen hören müsse.
Und der Herr hörte die Gebete des Tobit und der Sarah und gab seinem Engel Raphael den Befehl, beiden zu helfen. Als Sarah in Ekbatana, in Medien, aus ihrem Obergemach
herunterkam, betrat Tobit in Ninive gerade sein Haus. Er wollte seine irdische Hinterlassenschaft regeln, weil er glaubte, von Gott erhört zu sein, rief Tobias zu sich und sprach: »Kind, wenn ich sterbe, dann bestatte mich. Ehre deine Mutter alle Tage deines Lebens und betrübe sie nicht! Bete alle Tage zu Gott, unserem Herrn und halte seine Gebote! Sei gerecht und barmherzig zu allen nach deinem Vermögen! Und nimm ein Weib aus dem Geschlecht deines Vaters! Nimm kein fremdes Weib, das nicht aus dem Stamm deines Vaters ist; denn wir sind Nachkommen der Propheten: Noah, Abraham, Isaak und Jakob.« Tobit gab seinem Sohn Tobias noch viele
Ermahnungen und befahl ihm, nach Medien zu reisen, um die zehn Talente Silber abzuheben. Er übergab ihm seinen Schuldschein und empfahl ihm, sich einen Reiseführer zu suchen. Tobias ging hinaus und traf einen Jüngling, der zur Reise gerüstet war. Er wußte nicht, daß ein Engel Gottes vor ihm stand und fragte ihn, ob er mit ihm reisen wolle und ob er den Weg nach Medien kenne. Raphael antwortete: »Ich will mit dir reisen. Ich kenne den Weg gut, und bei unserem Bruder Gabael in Rayes habe ich schon übernachtet.« Als Tobias den Unbekannten seinem Vater vorstellte, fragte Tobit nach dem Stamm und nach der Familie des Mannes. Raphael aber
antwortete: »Suchst du Stamm und Familie oder suchst du einen Lohndiener, der mit deinem Sohn reisen soll?« Doch nannte er eine alte, angesehene Familie. Nachdem sie sich auf eine Drachme Lohn je Tag und die Reisekosten geeinigt hatten, machten sich die beiden Jünglinge auf den Weg.
Sie zogen ruhig ihre Straße, kamen abends an den Tigris und schlugen dort ihr Nachtlager auf. Tobias wollte baden. Da fuhr ein großer Fisch aus dem Fluß und versuchte, ihn anzugreifen.
Raphael aber sagte: »Pack diesen Fisch!« Tobias rang mit dem Fisch und zog ihn aufs Land. Auf Geheiß des Engels nahm er Herz, Leber und Galle heraus und bewahrte sie auf. Den Fisch brieten und aßen sie. Auf dem weiteren Weg fragte Tobias, was es denn mit Herz, Leber und Galle des Fisches für eine Bewandtnis habe. Da sagte der Engel: »Wenn einer, Mann oder Weib, vom bösen Geist geplagt wird, dann muß man mit Herz und Leber räuchern. Dann wird er nicht mehr geplagt; mit der Galle aber bestreicht man Menschenaugen, die weiße Flecken haben. Dann werden sie wieder geheilt.« Während dieses Gespräches gingen sie auf das Gebirge von Ekbatana zu, und Raphael sprach weiter: »Bruder, wir werden heute bei Raguel übernachten. Er ist ein Verwandter von dir und hat ein einziges Kind, seine Tochter Sarah. Ich werde mit ihm sprechen und ihn bitten, daß er sie dir zur Frau gibt. Das Mädchen ist schön und klug. Nach dem Gesetz des Mose kann Raguel sie keinem anderen Mann geben, ohne sich des Todes schuldig zu machen. Du allein bist aus ihrem Geschlecht, und dir kommt es vor allen anderen zu, ihr Erbe zu empfangen.«
Tobias erschrak über diese Rede und antwortete: »Man hat mir erzählt, daß Sarah schon sieben Männern gegeben war, und daß sie alle im Brautgemach gestorben sind, weil ein Dämon sie liebt und alle tötet, die ihr zu nahe kommen. Ich bin der einzige Sohn meines Vaters und möchte nicht sterben wie die anderen. Meine Eltern haben keinen anderen Sohn, der sie bestatten könnte.« Der Engel aber erwiderte: »Denk an die Worte deines Vaters, mit denen er dir auftrug, ein Weib aus deinem
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