Das Hausbuch der Legenden
genommen den Schimpf meiner Feinde. Der Herr hat mir eine Frucht seiner
Gerechtigkeit geschenkt, einzig in ihrer Art! Wer wird den Söhnen Rubims melden, daß Anna zu stillen hat?«
Als das Kind zwei Jahre alt war, sagte Joachim: »Wir wollen es hinaufbringen in den Tempel des Herrn; denn so haben wir es Gott versprochen.« Anna aber erwiderte: »Wir wollen noch das dritte Jahr abwarten, damit das Kind nicht zu früh von uns getrennt wird und Heimweh nach Vater und Mutter bekommt.«
Da antwortete Joachim: »Dann wollen wir warten.« Als aber das dritte Jahr um war, riefen sie die Töchter der Hebräer, die unbefleckt waren, und jede nahm eine Fackel und zündete sie an, damit das Kind dem Tempel zugewandt blieb und sich nicht ablenken ließ. So brachten sie es in den Tempel und vor den Priester, der es küßte und segnete und sprach: »Der Herr hat deinen Namen groß gemacht unter allen Geschlechtern.
Durch dich wird er den Kindern Israels am Ende der Tage die Erlösung offenbaren!« Und er ließ sie auf der dritten Stufe des Altars sitzen. Der Herr aber goß Anmut über sie aus, und sie tanzte auf ihren Füßen einher, und das ganze Haus Israel gewann sie lieb. Die Eltern gingen staunend hinab in ihr Haus und lobten den Herrn; denn das Kind hatte sich ihnen nicht zugewandt. Maria aber blieb im Tempel des Herrn und nährte sich wie eine Taube; sie erhielt ihre Kost aus Engelshand.
Maria und Joseph
ALS MARIA zwölf Jahre alt war, berieten die Priester, was mit ihr geschehen solle. Sie sagten: »Maria ist nun zwölf Jahre alt geworden im Tempel des Herrn. Was sollen wir nun mit ihr tun, damit sie nicht das Heiligtum unseres Herrn befleckt?«
Und sie sagten zum Hohenpriester: »Du hast deinen Platz unmittelbar am Altar des Herrn. Gehe du hinein in das Heiligtum und bete für sie! Was immer der Herr offenbaren wird, das werden wir tun.« Da nahm Zacharias, der
Hohepriester, das Amulett mit den zwölf Glöckchen, ging in das Allerheiligste und betete für Maria. Und siehe, da trat ein Engel des Herrn zu ihm und sagte: »Zacharias, geh hinaus und rufe alle Witwer des Volkes auf! Jeder soll einen Stab mitbringen, und wem der Herr ein Zeichen gibt, dessen Weib soll Maria sein.« Da zogen die Herolde durch das ganze Land Judäa, und alle hörten die Posaune des Herrn und liefen herbei.
Mitten in der Arbeit warf Joseph sein Beil weg und schloß sich den anderen Witwern an. Sie nahmen ihre Stäbe und gingen zum Hohenpriester. Zacharias aber nahm alle ihre Stäbe, ging in den Tempel und betete. Dann gab er ihnen die Stäbe zurück.
Aber es geschah kein Zeichen. Joseph erhielt den letzten Stab.
Plötzlich flog eine Taube aus seinem Stab und setzte sich auf sein Haupt. Da sagte der Hohepriester zu ihm: »Du also bist durchs Los dazu bestimmt, die Jungfrau des Herrn in deine Hut zu nehmen und zu bewahren.« Joseph redete dawider: »Ich bin doch ein alter Mann und habe erwachsene Söhne; sie aber ist jung. Ich fürchte den Spott der Kinder Israel.« Zacharias aber antwortete: »Fürchte den Herrn, deinen Gott! Erinnere dich, wie er Dathan, Abiram und Korah schlug! Die Erde tat sich auf und verschlang sie, als sie Gott widersprachen. Fürchtest du nicht, daß deinem Hause dasselbe geschehen könnte?« Da überkam Joseph die Furcht des Herrn, und er nahm Maria in seine Hut. Er sagte zu ihr: »Ich habe dich aus dem Tempel des Herrn empfangen. Jetzt muß ich dich aber allein lassen; denn ich muß fortgehen, um meine Bauten fertig zu machen. Erst dann kann ich wieder zu dir kommen. Der Herr wird dich inzwischen bewahren.« In dieser Zeit suchten die Priester sieben unbefleckte Jungfrauen aus dem Stamme Davids; denn sie wollten einen neuen Vorhang für den Tempel weben lassen.
Einer erinnerte sich dabei an die kleine Maria, die ja auch aus dem Stamme Davids kam und die vor Gott unbefleckt war. Sie führten die sieben Jungfrauen und Maria in den Tempel und ließen das Los entscheiden, wer das Gold spinnen sollte, den Flachs, die Baumwolle und die Seide, das Hyazinthenfarbige, das Scharlachfarbige und den echten Purpur. Auf Maria entfielen der echte Purpur und das Scharlachfarbige. Sie nahm beide, ging heim und spann. Als sie einmal mit dem Krug hinausging, um Wasser zu holen, hörte sie eine Stimme, die sprach: »Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir! Du bist gepriesen unter den Frauen!« Sie sah sich nach allen Seiten um, konnte aber nicht finden, woher die Stimme kam.
Da befiel sie ein Zittern, und sie ging ins
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