Das Hausbuch der Legenden
Haus und stellte den Krug ab. Als sie wieder in ihrem Stuhl saß und den Purpur zu Fäden zog, trat ein Engel des Herrn vor sie und sprach:
»Fürchte dich nicht, Maria! Denn du hast Gnade gefunden vor dem allmächtigen Herrn! Du wirst empfangen aus Seinem Wort! Aus dir wird der Sohn des Höchsten geboren werden.
Du sollst ihn Jesus nennen; denn Er wird Sein Volk erretten von seinen Sünden.« Und Maria antwortete: »Siehe, ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du gesagt hast!« Als sie dann dem Priester den Purpur und das Scharlachfarbige ablieferte, segnete er sie und sprach: »Maria, der Herr hat deinen Namen groß gemacht, alle Geschlechter der Erde werden dich preisen!« Voll Freude wanderte Maria zu ihrer Verwandten Elisabeth und blieb drei Monate bei ihr. Ihr Leib wurde Tag um Tag stärker. Sie fürchtete sich und ging heim in ihr Haus und verbarg sich vor den Kindern Israels. Sie war sechzehn Jahre alt, als sich diese Geheimnisse mit ihr begaben.
Sie war im sechsten Monat, da kam Joseph von seinen Bauten zurück. Als er in sein Haus trat, mußte er feststellen, daß sie in anderen Umständen war. Unmutig und verzweifelt schlug er sich ins Gesicht, warf sich auf seine Schlafdecke am Boden, weinte bitterlich und rief: »Mit welchem Gesicht soll ich nun vor meinen Herrn und Gott treten? Was soll ich ihm in meinem Gebet von diesem Mädchen sagen? Als Jungfrau habe ich sie aus dem Tempel des Herrn empfangen und nicht genügend behütet. Wer hat mich hintergangen? Wer hat diese Schande in mein Haus gebracht und diese Jungfrau befleckt?« Und Joseph stand auf und rief Maria zu sich und sagte: »Ich habe dich für Gott in meine Obhut genommen. Warum hast du das getan?
Hast du den Herrn, deinen Gott, ganz vergessen? Warum hast du deine Seele so erniedrigt? Bist du nicht im Allerheiligsten erzogen worden, hast du nicht deine Nahrung aus der Hand eines Engels empfangen?« Da weinte Maria bitterlich und antwortete: »So wahr der Herr, mein Gott, lebt, ich bin rein vor ihm und kenne keinen Mann.« Da fragte Joseph: »Woher ist dann das Kind in deinem Leibe?« Sie aber antwortete: »So wahr der Herr, mein Gott, lebt, ich weiß nicht, woher mir das gekommen ist.«
Da überfiel Joseph eine große Angst, und er ließ sie in Ruhe und überlegte, was er mit ihr tun solle. Er dachte: »Verberge ich ihre Sünde, dann stehe ich da wie einer, der wider die göttlichen Gesetze streitet; stelle ich sie aber vor den Kindern Israels bloß, und das, was in ihr ist, stammt von den Engeln des Herrn, dann stehe ich wie einer da, der unschuldiges Blut dem Tode ausliefert. Was soll ich nur mit ihr tun? Ich werde sie heimlich in aller Stille wegschicken.« Während er noch überlegte, kam die Nacht, und der Schlaf überwältigte ihn. Im Traum aber erschien ihm ein Engel des Herrn und sagte:
»Fürchte nichts für dieses Mädchen! Was in ihr ist, das ist vom Heiligen Geist. Sie wird einen Sohn gebären; dem sollst du den Namen Jesus geben; denn Er wird Sein Volk retten von seinen Sünden.« Und Joseph stand vom Schlaf auf und pries den Gott Israels, der ihm diese Gnade geschenkt hatte, und nahm Maria wieder in seine Hut.
An diesem Tag aber kam Hannas, der Schriftgelehrte, zu Joseph und fragte ihn: »Warum bist du nicht in unserer Versammlung erschienen?« Und Joseph antwortete ihm: »Weil ich noch von der Reise müde war und den ersten Tag ausruhen wollte.« Als Hannas sich umwandte, sah er aber, daß Maria schwanger war. Da lief er, so schnell er konnte, zum Priester und berichtete ihm: »Joseph, für den du Zeuge bist, hat schwer gefrevelt!« Da fragte der Priester erstaunt: »Wieso denn?« Und Hannas antwortete: »Er hat die Jungfrau, die ihm aus dem Tempel des Herrn zur Obhut übergeben worden ist, befleckt.
Er hat sich das Beilager erschlichen und hat dies nicht vorher den Kindern Israels kundgetan.« Der Priester fragte zweifelnd zurück: »Das soll Joseph getan haben?« Hannas, der
Schriftgelehrte, aber sprach: »Schicke Diener hin! Sie werden feststellen, daß Maria schwanger ist.« Daraufhin gingen die Diener in das Haus Josephs und fanden alles so, wie Hannas es gesagt hatte. Sie führten das Mädchen und Joseph vor Gericht.
Da begann der Priester zu sprechen: »Maria, warum hast du das getan? Warum hast du deine Seele erniedrigt, warum hast du den Herrn, deinen Gott, ganz vergessen? Bist du nicht im Allerheiligsten erzogen worden? Hast du deine Nahrung nicht aus der Hand des Engels empfangen? Durftest du nicht die
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