Das Hausbuch der Legenden
dringlicher an, sie zu retten. Da sagte er schließlich zu ihnen: »Kommt morgen in aller Frühe an mein Grab. Dort werdet ihr Titus und Lukas beim Gebet finden. Sie werden euch das Siegel im Herrn geben.«
Dann wandte sich Paulus gegen Osten, erhob die Hände zum Himmel und betete lange. Als er fertig war, hielt er seinen Hals hin, ohne ein Wort zu sagen. Der Scharfrichter schlug ihm den Kopf ab. Da spritzte Milch auf die Röcke der Soldaten. Alle wunderten sich sehr und priesen Gott. Dann gingen sie und meldeten dem Kaiser, was geschehen war.
Der Kaiser war sehr überrascht von dieser Meldung, die ihn erschreckte und ratlos machte. Um die neunte Stunde aber stand er mit vielen Philosophen und dem Zenturio zusammen.
Da trat plötzlich Paulus vor ihn und sagte: »Kaiser! Siehe, ich Paulus, der Soldat Gottes, ich stehe vor dir. Ich bin nicht tot.
Ich lebe ewig meinem Gott. Dich aber wird der Herr schlagen!
Dich wird schon in wenigen Tagen schwere Strafe treffen.
Denn du Elender hast das Blut der Gerechten vergossen.«
Nach diesen Worten verließ Paulus den Kaiser. Nero war tief erschrocken. Er gab sofort den Befehl, alle Gefangenen freizulassen, auch den Patroklus, den Barsabas und ihre Gefährten. Longus und Zestus aber gingen am nächsten Morgen voller Furcht zum Grab des Paulus. Dort fanden sie zwei Männer beim Gebet. Zwischen ihnen aber stand Paulus selbst. Das unbegreifliche Wunder erschreckte sie sehr. Die beiden Betenden aber, Titus und Lukas, flohen, als sie die römischen Soldaten sahen. So kam es, daß Longus und Zestus ihnen nachlaufen mußten. Sie riefen fast verzweifelt: »Wir wollen euch doch nicht ans Leben, ihr ehrwürdigen Männer Gottes! Wir wollen euch doch bitten, uns das Leben zu schenken, das Paulus uns verheißen hat, der eben noch zwischen euch stand und betete!« Als Titus und Lukas dies hörten, kehrten sie um, erteilten den Römern das Siegel im Herrn, freuten sich mit ihnen und priesen den Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen!
Johannes, der Lieblingsjünger des Herrn
MAN ERZÄHLT sich, daß Johannes, der Apostel und Evangelist, von väterlicher und von mütterlicher Seite aus dem
königlichen Geschlecht der Jesse stamme. Er soll ein Neffe der heiligen Jungfrau und damit ein Blutsverwandter Christi gewesen sein. Als die Apostel zwölf Jahre nach der
Himmelfahrt des Herrn losten, in welche Länder ein jeder ziehen müsse, um das Wort Gottes zu verkünden, fiel dem Johannes Asien zu. Johannes brach darüber in Tränen aus; denn nun mußte er die Mutter Maria verlassen, die ihm der Herr noch am Kreuz anvertraut hatte. Ferner bekannte er offen vor den anderen Aposteln, daß er sich vor den Gefahren der Überfahrt fürchte. Aber er bereute diese Schwäche, gab die Mutter Jesu in die Obhut seiner eigenen Mutter Salome und schiffte sich zusammen mit Prochoros, einem der
zweiundsiebzig Jünger, auf einem ägyptischen Frachtschiff nach Ephesus ein.
Auf dem Schiff sprach Johannes mit seinem Begleiter über die Gefahren der See und forderte ihn auf, drei Monate in Ephesus auf seine Ankunft zu warten, wenn sie durch ein Schiffsunglück voneinander getrennt werden sollten. Bald nach diesem Gespräch kam ein schwerer Sturm auf, dreimal entging das Schiff mit knapper Not dem Untergang, während der dritten Nachtwache wurde es schließlich von drei kurzen, aber mächtigen Wellen überflutet. Es zerschellte. Die sechsundvierzig Mann der Besatzung trieben lange im Meer, wurden dann aber ans Ufer gespült, wo sie viele Stunden erschöpft am Strand liegenblieben. Nur Johannes fehlte. Erst am Abend fanden sie den Weg in die nahe Stadt Seleukia, wo man die Schiffbrüchigen freundlich aufnahm und verpflegte.
Als sie gesättigt und wieder kräftig genug waren, ihr Schicksal zu bedenken und zu bereden, erklärte die Mannschaft, Johannes sei gewiß ein Magier. Er habe das Unglück
verursacht, weil er sich in den Besitz der wertvollen Ladung setzen wollte. Als Prochoros ihnen nichts über den Verbleib des Apostels sagen konnte, schleppten sie ihn vor den Ortsrichter. Er wurde ins Gefängnis geworfen, mit dem Tode bedroht und nur auf Veranlassung eines hohen Beamten aus Antiochia wieder freigelassen.
Prochoros begab sich nun allein auf den Weg nach Asien und kehrte nach vierzig Tagen in einer Herberge am Meer ein, um auszuruhen. Wieder drohte ein Unwetter, eine große Woge trug einen Menschen ans Ufer. Prochoros lief mit den andern hin, um zu helfen. Da erkannte
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