Das Heerlager der Heiligen
Gesellschaft vor, sie leide an geistigen Krebsschäden, weil sie die Irren befreien wolle, um nicht einer Unterdrückung eine weitere hinzuzufügen. Offenbar vergißt man dabei etwas schnell die ausschlaggebende Wirkung des Befreiungsmythos‘, der ja, wie zu andern Zeiten die Droge, bewußt eingeträufelt worden ist. Aber gehen wir darüber hinweg … Kathederstreit lohnt sich in dieser Stunde nicht. Begnügen wir uns mit ein paar Tatsachen aus einer Vielfalt von Tausenden.
So gab es beispielsweise in dieser Nacht zahlreiche Sittlichkeitsdelikte. Nie hat man zuvor so viele Penisse aus den Hosenschlitzen heraushängen gesehen, und während normale Leute sich versteckten oder flüchteten, hatten die öffentlichen Bedürfnisanstalten, besonders in Paris, aber auch in allen großen Städten einen Zulauf wie nie zuvor seit der Befreiung 1944. Es ist sicher kein Zufall, daß zwei ähnliche Typen die gleiche Wirkung erzielten. Vom Lüstling zum Sadisten war kein großer Schritt. Des weiteren trat diesmal einem Mädchen, das sich jeden Tag verfolgt oder aufgelauert fühlte – eine laufende Stadtkrankheit –, der Tod mit dem schrecklichen Gesicht der sexuellen Raserei gegenüber. Noch Jahre später fand man auf verlassenen Baustellen Leichen von Frauen und Kindern, die ausgegraben wurden, ähnlich wie die Bomben in den Städten aus den letzten Kriegen.
Desgleichen blühten auch die Denunzierungen aller Art, welche besondere Behörden pausenlos überprüfen mußten. Als die Post wieder normal funktionierte, war man verblüfft über die Masse der anonymen Briefe, die in dieser Nacht geschrieben und in die Briefkästen geworfen worden waren. In außergewöhnlichen Zeiten zeigt sich das Maß der menschlichen Verkommenheit. Nur ein Phänomen war jetzt neu: die zahlreichen Briefe von Kindern, die ganz hübsch Papa und Mama denunzierten. Da braucht man nicht zu heulen. Während der chinesischen Kulturrevolution gaben sich die jugendlichen Chinesen mit großer Freude dieser Sache hin, und Gott weiß, daß man im Westen keineswegs mit Lob sparte! Ein anderes Kapitel betrifft die geschorenen Frauen. Eine Sekretärin, die mit ihrem Chef schlief, oder eine Arbeiterin mit ihrem Vorarbeiter war am Morgen kahlrasiert wie eine buddhistische Nonne. Was die Abrechnung unter Franzosen betrifft, so wollen wir lieber nicht davon sprechen. Erbärmlich! Zerstochene Autoreifen, beschmierte Häuserwände, zerbrochene Fensterscheiben, vergiftete Hunde, abgesägte Bäume, aufgewühlte Weiden, alle diese engstirnigen Untaten kleiner Leute fielen in dieser Zeit kaum ins Gewicht. Da war wenigstens die Dritte Welt großzügiger bei ihrer Abrechnung …
Was Naivität vermag, zeigt folgende spaßige Geschichte. Dreihundert Dorfbewohner in der Nähe der Fliegerschule Deauville-Gatien, in welcher junge Piloten der Air France Start und Landung übten, besetzten seit drei Uhr früh das Gelände und die Gebäude samt Einrichtungen. Geschah dies im Namen ihrer erschöpften Nerven? Keineswegs! Mit dem Bürgermeister an der Spitze, der sich die Trikolore um den Leib gebunden hatte, schwangen die Bauern ihre Gabeln und setzten, flankiert von Bäuerinnen mit aufgelösten Haaren, zum Sturm auf den Kontrollturm an – um ihrem Vieh Ruhe vor dem Fluglärm zu verschaffen! Man hat schon wegen weniger revoltiert. Wer weiß, wo das Ideal des Menschen eigentlich sitzt. Bei zuviel Lärm der Düsenflugzeuge geht das Vieh zugrunde. In der Normandie ist die Kuh heilig! Seit diese Bauern erfolglos demonstrierten, wurden sie sauer wie die Milch ihrer Kühe. Kaum hatte daher der Präsident der Republik am Fernseh-Bildschirm des Bürgermeisters aufgehört, da drehte sich der brave Mann um, kippte einen Calvados hinunter und sagte: »Jungs, ich glaube, diesmal werden wir sie packen!« Als traditionsbewußter Mensch ließ er die Sturmglocke läuten. Im Dorf wußte jeder, was los war. Die Gangesflotte war weit weg. Hier kümmert sich keiner um Politik und keiner mischt sich in die Angelegenheiten der andern ein. Möge jeder vor seiner eigenen Tür fegen! Aber der Flugplatz, der ist unsere Sache. Ah, wie uns das freut! Diese einzigartige Sturmglocke in einer historischen Nacht, die mit aller Macht zur Rettung der Rinder läutet …
40.
Mond und Sterne waren verschwunden. Unter einer großen Tanne saß Oberst Dragasès und wärmte sich an einer Tasse Kaffee die Hände. Der Scheinwerfer auf der Villa drang nicht mehr scharf durch die Nacht, die langsam verblich. Gleich einer
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