Das Heerlager der Heiligen
im Morgennebel unkenntlich gewordenen Schildwache tastete sich sein Strahl die hundert Meter zum Strand hindurch. Fünf Uhr. Noch rührte sich nichts an Bord der Einwandererflotte, außer einigen kaum wahrnehmbaren Bewegungen. Offenbar sind es Köpfe, die sich bei dem nun anbrechenden Tag dem Ufer zuwandten, um dort womöglich die nächsten Schicksalsminuten zu erforschen.
Beim Panama Ranger war der Lärm schwächer geworden oder in eine weichere Tonart übergegangen. Man hörte nur noch Gitarren, begleitet von tiefen Stimmen, die moderne traurige Balladen sangen. Klagelieder waren zeitgemäß. Mit vier Noten sang man über sich, die andern, die Welt und alles sonstige. Als das Gejohle langweilte, versenkte man sich in menschliches Elend, oft hübsch mit Musik untermalt. Und die unzufriedenen Seelen fanden hier Zuflucht, denn anderes hat man sie nicht gelehrt.
Die Ursachen des Elends bei sich oder der Vergangenheit zu suchen, kam niemand in den Sinn. Diese Welt hielt sich nur aufrecht, indem sie sich das Elend als hochdosierte Droge einimpfte, so wie ein Drogensüchtiger sich an Heroin hält. Daß die Grundlage des Elends bei sich selbst zu finden manchmal etwas schwierig war, bedeutete wenig, denn einen Drogensüchtigen hält nichts zurück. Die Gifte lassen sich leicht beschaffen, und an Drogenhändlern mangelt es nie. Außerdem war irgendwo im Geist immer diese seltsame Hoffnung auf völlige Zerstörung vorhanden als letztes Mittel gegen den Überdruß, der den modernen Menschen verbraucht. Diese Hoffnung hatte das Tier ausgelöst, indem es sie im Lied verherrlichte.
In diesem Augenblick begann die klare, volltönende Stimme eines jungen Mannes. Die andern verstummten und nahmen nur den Wechselgesang im Chor auf, wie bei Vespern oder als zeitweilige Ergänzung. Nebenbei gesagt, ist die Tötung des Sakralen, die Vernichtung der antiken Liturgie nicht zufällig geschehen. Man darf nicht glauben, daß die Priester sie eigenhändig erwürgten, ohne zu wissen, daß sie anderweitig wieder erstehen würden. Sie wußten es, und viele hatten sich gefreut, dazu ihre besten Waffen zu liefern. Das Sakrale brauchte Gott nicht mehr, die Liturgie verherrlichte nur noch das menschliche Wesen auf Linien, und die von der göttlichen Bürde endlich entlasteten Priester konnten ihr Amt als Menschen wie jedermann übernehmen.
Was die Stimme sang, war im Text gewöhnlich. Aber die Worte waren nicht wichtig, da sie schlechthin übertönt wurden. Der junge Mann improvisierte:
»Für den Tritt in den Hintern des niedergeschlagenen, auf dem Bürgersteig blutenden Arabers werden wir diese verkommene Welt zerstören …«
»Wir werden diese verkommene Welt zerstören«, wiederholt der Chor.
»Für die unsinnige Leibesfrucht der am Samstagabend geschwängerten Arbeiterin werden wir diese verkommene Welt zerstören …«
»Wir werden diese verkommene Welt zerstören …«
»Für das heulende Mädchen, das von seinem Vater erwürgt wurde, der vom Lärm der Maschinen die Nerven verloren hatte, werden wir diese verkommene Welt zerstören …«
»Für den ausgehungerten Neger, der den Hundekot der Reichen wegkehrt, werden wir diese verkommene Welt zerstören.«
»Für die durch die Rhodiachemie zerstörten Lungen werden wir diese verkommene Welt zerstören …«
»Wir werden diese verkommene Welt zerstören«, wiederholte der Chor. Da die Stimmung stieg, fügten einige hinzu: »diese ekelhafte, stinkende, beschissene Welt…« Begleitet von Akkordschlägen der Gitarre wurde der Refrain länger und jeder entlud seinen Haß. »Menschliche Welt« sagte sogar einer. Zweifellos eine Einschränkung und sicher wußte er nie, wie Gott sich anstrengte, um ihm zu vergeben …
»Für den Greis, dem am Weihnachtsfest der Alten der Pfarrgemeinde der Sekt aufstößt, werden wir diese verkommene Welt zerstören …«
»Für den Scheck des Chefs am Weihnachtsfest der Alten werden wir diese verkommene Welt zerstören …«
»Für die nackte Negerin, die sich bei den Safaris der Millionäre verkauft …«
»Für die fünfundzwanzig Wildschweine, die der Präsident geschossen hat …«
»Für die Millionen von Körpern, die durch den Waffenhandel durchlöchert wurden …«
»Für den gefressenen Kaviar an einem Hungerabend in Indien …«
»Für den Hindu, der am Neujahrsmorgen vor Hunger starb …«
»Für die Schlächter des Westens, die immer diejenigen getötet haben, die sich vor ihren schmutzigen Ideen nicht gedemütigt haben …«
Der
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