Das Heerlager der Heiligen
und dem Haß im Herzen hatten sie nur flüchtig handeln können. Sie besaßen auch nicht die Kraft, den Gangesbefreiungsmythos aufzugreifen und daraus einen Rammbär, ein Schwert und einen Glauben zu machen. Noch einen heimtückischen Fußtritt beim Weggehen, ohne Risiko, und dann jeder für sich nach Norden fliehen, das war alles. Sie wollten die Reichen krepieren lassen, ohne zu denken, wer ihnen dann Arbeit gibt … Gott weiß, was sie in den letzten Wochen zusammengeschwatzt haben, in ihren kleinen Fabriken, durch die sie recht und schlecht, aber eher gut als schlecht lebten. Die Mauern hingen voll von noch frischen Sprüchen: »Proletarier, Volk vom Ganges, wir alle sind einig in der Freiheit! Keine Vorgesetzten mehr, die Fabriken den Arbeitern …!« Am Schluß der Rechnung Auflösung, Panik und Leere. »Ich frage mich«, sagte der Abt, als er im Mondlicht die Mauersprüche betrachtete, »warum sie nicht ein für allemal Nutzen daraus gezogen hüben. Wenn man eine bestimmte Einstellung hat, muß man die Gelegenheit ergreifen, sie zu verwirklichen. Sonst ist man kein Mann.«
Schwankend setzten sie ihren Marsch auf den Bürgersteigen fort. Ein alter Mönch fiel auf dem Asphalt hin. Mit blutender Handfläche erhob er sich mit Hilfe des Abts, der noch voll bei Kräften zu sein schien. Bei einem andern blutete eine große Beule auf der Stirn. »Ein netter Leidensweg«, bemerkte lächelnd Dom Melchior, als ob er ein Geschenk des Himmels erhalten würde. Seit man nicht mehr auf die Heiligen des Paradieses sang, folgten die Greise verständnislos und fragten jammernd wie müde Kinder: »Vater, ist es noch weit? Sind wir bald da?«
An einer Fabrikmauer am Ausgang der Stadt, im Duft eines Tannenwäldchens hielt der an der Spitze marschierende Dom Pinet plötzlich und drehte sich um. Was nun folgte, war das seltsamste Zwiegespräch zwischen einem Mönch, der das heilige Sakrament, eine weiße Hostie in Form einer goldenen Sonnenscheibe, trug, und dem Träger einer Bischofsmütze.
»Mein Vater«, sagte der Prior, »diese Maskerade muß aufhören. Sie ist Ihrer und meiner unwürdig. Sie entehrt die Unglücklichen, die Sie hinter sich herziehen wie eine Herde alter Tiere. Und sie bringt eine Geisteshaltung zum Ausdruck, die von Ihnen ausgeht. Ich habe Sie kennen gelernt. Wann haben Sie den Glauben verloren?«
Der Priester lächelte. Mit sanfter Stimme bemerkte er:
»Lieber Bruder Paul, Sie dürfen sich nicht zu solchen Worten hinreißen lassen. Sie tragen den Leib Christi.«
»Gut! Dann nehmen Sie ihn. Es ist Ihre Sache. Die Küste ist nicht mehr weit entfernt. Und was soll‘s! (Er streckte die Monstranz hin.) Das ist nur noch eine Illusion.«
Dom Melchior machte keine Bewegung, aber mit dem Blick auf die Hostie antwortete er:
»Als ob ich es nicht immer gewußt hätte. Ich habe den Glauben nie verloren. Ich habe ihn nie gehabt, wie viele unserer besten Priester und unserer größten Päpste. Wir können sicher sein, daß Benedikt XVI. unter dem Glauben leidet; wir können ja die Auswirkungen davon sehen. Den wahren Glauben, der Berge versetzt, gibt es nicht. Oder vielmehr, er ist nur eine Haltung, und es gibt nichts Stärkeres als eine Haltung. Aber ich hätte so gern gewünscht …«
Er konnte den Satz nicht beenden. Aus dem Tannenwäldchen tauchte ein Mann auf, der sich hier nach einem langen Marsch ausgeruht hatte. Es war ein junger Mann, der mit einer Samthose und einer Lederbluse bekleidet war. Schwarze, gelockte Haare umrahmten ein Gesicht, das trotz Müdigkeit regelmäßige Züge aufwies.
»Wenn Sie wollen, mein Vater, werde ich die Monstranz bis zur Küste oder wohin Sie wünschen tragen.«
»Sind Sie Priester?«
»Ich bin Priester.«
»Wie heißen Sie?«
»Pierre Chassal.«
»Pfarrer Chassal!« rief Dom Pinet, der kein Auge von dem jungen Mann abgewandt hatte. »Sie nicht! Heute verleugnen Sie sich ja!« Vor ein paar Jahren war Pfarrer Chassal bekannt geworden. Als junger Priester hatte er eine glänzende Zukunft vor sich. Aber da hatte er im Erzbistum Paris ein elegantes hübsches Mädchen einer angesehenen Pariser Familie geheiratet, und wie es Mode war, wurden sie Starmitglied der Progressiven Kirche. Als Pfarrfrau hatte sich Lydia einen besonderen Stil zugelegt. Sie wurde viel fotografiert. Mit ihren langen, über den Rücken fallenden Haaren, ihren langen Röcken und schwarzen Stiefeln wirkte sie erotisierend; man wußte aber, daß sie in ihren Priester innig verliebt war. Und er zeigte sein
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