Das Heerlager der Heiligen
Matrosen um die Welt und entfachte in der Öffentlichkeit Entrüstungsstürme. Die westliche Welt, der man sowieso ein dauerndes Schuldgefühl eingetrichtert hatte, fühlte sich diesmal aus einem klaren Beweggrund wirklich schuldig. Das Tier hatte in Kapitän Notaras unverhofft ein neues Symbol gefunden und gab dies mit Trompetentönen kund. Luc Notaras wurde in der schrecklichen zeitgenössischen Geschichte unter das Kapitel »weiße Schlächter« eingereiht. Dieses Kapitel wurde von den Dienern des Tieres weidlich ausgebaut. Sie verpaßten ja keine Gelegenheit, die traurigsten Dinge ohne Zusammenhang und unterschiedslos lauthals hinauszuposaunen, gleichsam wie eine Drohung, eine Mahnung und ein Schreckgespenst.
Es gab keinen Fall Dreyfuß. Kapitän Notaras, der in Marseille verhaftet und ins Gefängnis gesteckt wurde, hatte alle gegen sich. Wenn irgendein Mörder ein schreckliches Verbrechen begangen hatte, wie Notzucht und Zerstückelung eines Mädchens oder Ermordung eines Greises mit einem Hammer wegen hundert Francs, so leistet die moderne Justiz mit der Psychiatrie immer Hilfe und findet eine Entschuldigung wegen der Fehler unserer Gesellschaft. Bezüglich der Missetat des Kapitäns Notaras suchte man keine weitere Erklärung. Er verkörperte die weiße Rasse. Er war überzeugter »Rassist« und hatte aus blindem Rassenhaß gehandelt. Punktum. Die Psychiater hätten ja fragen können, warum dieser Rassenhaß bestand, wenn es eine richtige Untersuchung und einen Prozeß gegeben hätte.
In Wirklichkeit wurde die Untersuchung unter dem Druck der Öffentlichkeit oberflächlich geführt. Der Prozeß sollte am Dienstag nach Ostern vor dem Gericht in Aix-en-Provence beginnen, fand aber nicht statt. Der Kapitän war am Abend des Ostersonntags aus dem Gefängnis entwichen, nachdem das Wachpersonal selbst geflohen war. Da keine vergleichbaren Tatbestände noch Vermutungen ein derartig unerklärliches Verbrechen aufhellen konnten, hätte man es da nicht unter ganz neuen Gesichtspunkten betrachten müssen? Statt dessen sprach man davon, im Fall Luc Notaras die Todesstrafe wieder einzuführen! Solches schrieben sogar die wildesten Gegner der Todesstrafe in ihren Zeitungen. Allen voran Clément Dio, der so viele unentschuldbare Verbrechen verteidigt hatte, die im Namen der Dritten Welt von zahllosen »Befreiungskommandos« aller Art begangen wurden. Offenbar dachte niemand, daß sich Kapitän Notaras in einer Art Fieberdelirium innerlich von irgend etwas frei gemacht hatte. Aber selbst Machefer schwieg. Einen Augenblick lang packte ihn die Lust, als Überschrift für einen Artikel den berühmten Satz Talleyrands nach der Ermordung des Herzogs von Enghien zu verwenden: »Mehr als ein Verbrechen, ein Fehler!« Aber er verzichtete. Wer hätte ihn auch verstanden? Das wäre zu viel verlangt gewesen. Die Öffentlichkeit kann ja nur mit den Wölfen heulen.
Es war tatsächlich ein Fehler. An jenem Tag wurden, was den westlichen Widerstandsgeist betrifft oder wenigstens die notwendige Aufmerksamkeit, zwei Vorstellungen zerstört oder stark erschüttert. Die eine, die sich auf einen möglichen Angriff oder Einfall bezog, hatte trotz der offensichtlichen Gewaltlosigkeit der Gangesflotte einerseits und dem Trommelfeuer der Presse andererseits schon begonnen, etliche Gehirne zu beschäftigen. Sie scheiterte jedoch zur gleichen Zeit wie der Flußdampfer. Eine noch so bedauernswerte Schwäche konnte und durfte keine Bedrohung bilden. Die andere Vorstellung, die eine Verteidigung ins Auge faßte, wurde von der öffentlichen Meinung des Westens noch weniger anerkannt. Nachdem man in der Person Luc Notaras‘, des Mannes mit den vom Blut Unschuldiger befleckten Händen, ein abschreckendes Beispiel gefunden hatte, wurde sie schlicht im Keim erstickt. Am Mikrophon zog Albert Durfort die Folgerung »Wir sind keine Notaras!« »Wir werden nie Notaras sein!« Marcel und Josiane waren davon überzeugt. Zweifellos ist dies eine Erklärung …
Der Fall Notaras hatte wenigstens zwei praktische Ergebnisse. Einmal wußte man jetzt, wo die Flotte war, von der seit ihrer Durchfahrt durch die Meerenge von Ceylon keine Nachricht mehr vorlag. Nach einer zurückgelegten Strecke von zweitausend Kilometern wurden nunmehr auf Hunderten von Landkarten Hunderte von Fähnchen weiter westlich gesteckt. In allen Staatskanzleien der Dritten Welt rieb man sich die Hände, mit Ausnahme der arabischen, wo der Jubel aufhörte, als erkennbar wurde, daß die Armada
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