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Das Heerlager der Heiligen

Das Heerlager der Heiligen

Titel: Das Heerlager der Heiligen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Raspail
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Hände finden sich einen Augenblick lang. Sie fahren dem Strom entgegen. Der Stinktopf des genußfrohen Südens leert sich. Bald wird dort ein anderer Topf von sich reden machen. Ist es soweit? Die Apokalypse oder eine Neugeburt? Ein neuer Menschentyp, neue Verhältnisse, eine neue Gesellschaftsart? Oder die Vernichtung jeglichen erträglichen Lebens? Dio bekannte, daß ihm dies völlig gleichgültig war. Ein menschliches Ideal, das über den Völkern, den Wirtschaftssystemen, den Religionen und Rassen steht … Er erinnert sich, daß er solches gesagt hat. Was bedeutet dies eigentlich? Gar nichts. Über allem schwebt ein absolutes Nichts, und dieses Nichts ist wie eine Atomspaltung oder wie eine schlagartig eintretende, ungeheuere frei gewordene Leere. So ein Schauspiel darf man nicht versäumen. Hier wird ein riesiges, häßliches Vorrecht endlich zur Bedeutungslosigkeit gezwungen.
    Le Morvan … La Bourgogne … Dio summt am Steuer vor sich hin: »Denn die Zeit der tausend Jahre erfüllt sich, es erfüllt sich die Zeit der tausend Jahre.« Für einen Augenblick Herr der Welt zu sein, rechtfertigt ein Leben. Ein Beispiel hierzu bietet der Mörder von Sarajevo, der plötzlich die Zukunft erkannte und leidenschaftlich zur Tat schritt, statt einzuhalten, weil ihn die Vision der Umwälzung, die er auslöste, fasziniert hat.
    Hinter Mâcon stand im Lampenlicht eines Rastplatzes eine Panzerkolonne, wie eine Reihe großer Spielzeuge. Dio bremst, geht von der Autobahn herunter und hält neben dem Spitzenpanzer.
    »Hauen Sie ab!« sagt eine Stimme. Sie stammt von einem mürrischen Obersten. Zweites Kavallerieregiment von Chamborant. Dreihundert Jahre Tradition. Um ihn herum steht schweigend eine kleine Gruppe Offiziere. Sie sind bestürzt. Am Fuß der Panzer liegt eine Gruppe Soldaten, die sich lebhaft unterhalten. »Stimmen wir ab!« sagt einer. Chamborant! Dreihundert Jahre Ruhm! Und jetzt Auflösung!
    »Presse!« sagt Dio.
    »Schwein!« antwortet der Oberst. Mit geballten Fäusten nähert sich drohend der khakifarbene Riese. Ein Offizier tritt beschwichtigend dazwischen.
    »Gehen Sie zum Teufel!« ruft der Oberst. Dann besteigt er den Panzer, und man sieht außerhalb des Turms nur noch den ordengeschmückten Oberkörper mit einem wütenden Gesicht unter dem Helm. Unter dem ein wenig unwirklichen Licht der Lampen bietet sich ein hübsches militärisches Bild. Der Panzer trägt den Namen »Bir Hakeim«, das heißt »Alter Mond«. Jetzt heult der Motor auf. Ein Offizier schreit: »Aber sie sind immer noch da, Herr Oberst! Sie werden doch so etwas nicht tun!«
    »Ich pfeife darauf«, ruft der Oberst mit donnernder Stimme. »Wenn sie nicht sofort aufstehen, werde ich sie zermalmen!«
    Dio nähert sich dem Panzer von vorne. Dort sind »sie«. Etwa zwanzig liefen auf der Ausfahrt zur Autobahn. Die meisten tragen Uniform, mit roten Fangschnüren. Chamborant. Drei Jahrhunderte. Fünf Zivilisten lind darunter. Einer liegt schon fast unter der Raupenkette des Panzers. Mit seinem langen Bart und Lockenhaaren sieht er wie eine italienische Christusfigur aus.
    »Wer sind Sie?« fragte Dio.
    »FLH« erwidert der auf dem Boden Liegende. »Front zur Befreiung der Homosexuellen«.
    »Und Sie?« – »Ein unbekannter Proletarier«, sagt ein anderer. Dio kann sie genau unterscheiden.
    »Er wird Sie überfahren«, sagt er.
    »Er wird es nicht wagen«, antwortet der Homosexuelle. »Mich vielleicht, ja, das wäre verständlich, aber nicht die eigenen Soldaten.«
    »Hauen Sie doch ab, mein Gott«, fordert ihn ein Offizier auf. »Sie sehen doch, er fährt an!«
    Die Stahlmasse hat sich in Bewegung gesetzt. Kaum merklich mahlen sich die Raupenketten zentimeterweise vor.
    »Herr Oberst«, schreit der Offizier auf. »Scheiße«, antwortet der Oberst.
    Iris Nan-Chan schließt die Augen. Ihre westliche Hälfte kann nichts mehr ertragen. Als sie kurz darauf die Augen wieder öffnet, um ihre östliche Hälfte zufriedenzustellen, ist die italienische Christusfigur unter den Raupenketten des Panzers verschwunden, der Fetzen blutigen Fleisches nach sich zieht. Alles ging geräuschlos vonstatten. Von den übrigen hatte sich im letzten Augenblick einer nach dem andern erhoben. Wie das gewandte Ausweichen des Toreros vor den Stierhörnern. Schnell und geschmeidig haben sich die Soldaten zur Seite rollen lassen, wie bei der Ausbildung im Geländekampf. Ein Eliteregiment! Der Panzer Bir Hakeim ist jetzt schneller geworden und rollt auf die Autobahn zu. Der

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