Das Herz der 6. Armee
unterbrach Dr. Portner eine breite Rückennaht und sah die beiden Eintretenden verdutzt an. Der Verwundete vor ihm auf dem blutigen Küchentisch brüllte mit unmenschlichen Lauten, aber er wußte es nicht, er brüllte auch nicht aus Schmerz, er schrie im Delirium, im Fieberwahn, der seinen Körper ausglühte.
»Was ist denn das?« fragte Dr. Portner und starrte die Pannarewskaja an. Die Ärztin erwiderte den Blick mit Stolz und hoch erhobenem Kopf.
»Ich bin Olga Pannarewskaja. Seit acht Tagen Kapitänärztin der siegreichen Roten Armee.« Ihre zarte Stimme übertönte das rhythmische Brüllen des Verwundeten. Stabsarzt Dr. Portner legte seinen Nadelhalter hin.
»Sie erwarten doch nicht, daß ich Ihnen die Hand küsse, gnädige Frau?« Er machte mit beiden Händen eine umfassende Bewegung. »Sie sehen, im Augenblick werde ich abgehalten, galant zu sein. Die kleinen Widerwärtigkeiten des Lebens, meine Gnädigste. Aufgerissene Bäuche, halbe Köpfe, erfrorene Gliedmaßen, Fleckfieber, Wahnsinn, Wundbrand … Sie müssen mich entschuldigen …«
Die Pannarewskaja drückte das Kinn an ihr Uniformhemd, das sie unter dem olivgrünen Rock trug. Sie verstand den blutigen Sarkasmus Dr. Portners … sie kam aus einer Hölle und war in eine neue hineingeraten. Hinter ihr entstand Bewegung … zwei Soldaten führten Chefchirurg Dr. Sukow in den Keller, in einer Zeltplane hinter ihm schaukelte ein blutiger Körper. Zwei sowjetische Krankenträger schleppten ihn über die auf dem Kellerboden liegenden deutschen Leiber. Der schneidige deutsche Oberleutnant war schon wieder hinausgelaufen in die Trümmerwüste der Stadt … die eisige Luft in den Ruinen war ihm lieber als die stinkende Wolke aus Eiter, Blut und Kot.
»Noch einer?« fragte Dr. Portner.
»Chefchirurg Dr. Sukow …«, stellte die Pannarewskaja vor. Ein böser Blick des sowjetischen Arztes traf sie. Er lehnte sich an die Wand und verschränkte die Arme. Von seinem Mantel troff das geschmolzene Eis auf den Boden. Dr. Portner trat auf ihn zu. Ganz nah standen sie sich gegenüber und sahen sich an.
»Sie sprechen auch deutsch?« fragte Dr. Portner.
Dr. Sukow schwieg.
»Sie verstehen mich also nicht?«
Dr. Sukow schwieg. Er verzog sogar das Gesicht, als ekele er sich, von einem Deutschen angeredet zu werden. Dr. Portner hob die Schultern und wandte sich ab. Er sah auf den blutigen Körper in der russischen Zeltplane. Die beiden sowjetischen Krankenträger standen daneben, als hielten sie Ehrenwache.
»Wer ist denn das?«
»Oberst Juri Trifomewitsch Sabotkin«, antwortete Olga Pannarewskaja. »Als wir ihn aus der Stellung holen wollten, wurden wir von Ihrem Stoßtrupp überfallen. Trotz Sanitätsfahne.«
»Lassen Sie mich weinen, Genossin, über so viel Unbill!« Dr. Portner sah wieder zu Dr. Sukow. Er wußte, daß der Chef Chirurg jedes Wort verstand. »Man sollte den bösen Soldaten die Hosen ausklopfen, weil sie so unmanierlich sind. Schießen, obwohl sie selbst beschossen werden, die Lümmels! Gnädigste … die Jungen sind einfach verroht …«
Die Pannarewskaja wurde rot und riß die Hand aus der Umklammerung Dr. Körners. Erst jetzt bemerkte sie, daß sie noch immer Hand in Hand mit ihm dagestanden war, wie ein Liebespaar, das um den väterlichen Segen bittet. Auch Dr. Körner erwachte wie aus einer lähmenden Verzauberung. Er fand in das Grauen zurück, nahm die weggeworfene Nadel und setzte die Arbeit Dr. Portners fort – die Schließung der großen Rückenwunde des noch immer schreienden deutschen Soldaten. Olga Pannarewskaja zögerte. Dann zog sie ihren zerfetzten Lammfellmantel aus, warf ihn in die Ecke, Dr. Sukow vor die Füße, ging zu dem Blechbecken und tauchte die Hände in die Lysollösung. Dr. Portner hob warnend den Zeigefinger.
»Genossin, das ist deutsches Lysol!«
Die Pannarewskaja wandte sich um. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir Oberst Sabotkin als nächsten operieren? Er hat einen Lungenschuß und einen Bauchschuß.«
»Aber bitte, Gnädigste.« Dr. Portner nahm die Hacken zusammen und verbeugte sich. »Es wird mir eine Ehre sein, Ihnen meinen Küchentisch zu überlassen …« Er beugte sich über den bewußtlosen Obersten und schob dessen Augenlider hoch. »Ich befürchte, daß alle chirurgische Kunst nicht ausreicht, zu reparieren, was idiotische Massenblindheit angerichtet hat …«
Der deutsche Verwundete war vom Tisch genommen worden, die beiden sowjetischen Krankenträger, Dr. Körner und Olga Pannarewskaja hoben den
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