Das Herz der 6. Armee
Händen und Knien, wurden gezogen oder getragen, in Zeltplanen, auf Brettern, in leeren Munitionskisten, stöhnend, wimmernd, schreiend, fluchend, über 14.000 deutsche Verwundete.
Keiner von ihnen erreichte mehr den Flugplatz. Sie blieben auf der Straße, am Wegrand … sie schneiten zu, erfroren, wurden überfahren, in das Eis gestampft … 14.000 Männer mit aufgerissenen, blutenden Leibern … eine Stadt, so groß wie Oelde oder fünfmal mehr als Meersburg am Bodensee.
»Ich liebe dich …«, sagte die Pannarewskaja. »Wir wollen an nichts anderes mehr denken … auch das Denken ist vorbei …«
12
Was sind fünf Tage?
Fünf Tage sind nicht viel. Man kann in ihnen ein Gärtchen umgraben und Salatpflanzen setzen, oder Kohl, oder Erdbeeren man kann fünfmal acht oder zehn Stunden arbeiten und auf die Lohntüte warten, man kann eine Frau lieben oder auf gutes Wetter warten, in fünf Tagen werden auf der Welt einige hunderttausend Kinder geboren, man kann einen Hund dressieren, über einen Stock zu springen, und man kann zu der Tante nach Passau fahren, um dort den Geburtstagskaffeee zu trinken. Man kann in fünf Tagen viel Banales tun, was man allgemein als das tägliche Leben bezeichnet.
Man kann aber auch in fünf Tagen eine ganze Armee vernichten! Man kann einen Krieg entscheiden, das Schicksal eines Volkes, das Leben kommender Generationen.
Nach dem Feuerschlag am 10. Januar 1943 gab es keine geschlossene Kesselfront mehr. Im Schneesturm, der immer wehte, Tag und Nacht, rollten die sowjetischen Panzer von allen Seiten auf die müden, hungernden deutschen Regimenter zu, und hinter den Panzern folgte die Woge der vorwärtsstürmenden Roten Armee, eine Flut, die alles unter sich begrub, in den Schnee drückte, auf das Eis stampfte.
Am 12. Januar bereits flüchteten die Versorgungseinheiten vom Flugplatz Pitomnik. Der Schreckensruf »Panzer!« ließ selbst den trägsten Zahlmeister flott werden. Bisher verteidigten sie die Vorratslager wie Glucken ihre Eier – nun stoben sie in alle Richtungen davon, mit Kübelwagen, in Panjewagen, auf Trittbrettern von LKWs, auf Protzen und Gulaschkanonen.
Es war ein falscher Alarm. Ein einsamer sowjetischer Panzer, der sich verfahren hatte und der – sich selbst wundernd – ungehindert durch die deutschen Linien bis zum Flugfeld Pitomnik gerasselt war, drehte einige Runden, verbreitete Schrecken und Panik und fuhr dann zurück zur eigenen Panzerspitze, weil es ihm unheimlich wurde, allein zwischen einem Haufen kopfloser und angstschlotternder Wehrmachtsbeamter herumzukurven.
Die Luftversorgung brach zusammen. Nur Gumrak wurde noch angeflogen. Dort landeten die Ju 52 mit dem Material, auf das die 6. Armee händeringend wartete … Waffen, Munition, Sprit für Panzer und Fahrzeuge, Sanitätsmaterial, Verpflegung … 500 Tonnen täglich hatten Hitler und Göring der Armee versprochen, nicht einmal der zehnte Teil wurde geliefert. Hinzu kam, daß nicht alles, was in Pitomnik oder Gumrak gelandet wurde, auch bis nach vorn an die kämpfende Truppe kam. Die Bürokratie der Beamten, die selbst in der Hölle nicht aufhört, was Stalingrad bewies, verhinderte mit deutscher Gründlichkeit die auch nur notdürftige Versorgung der kämpfenden Truppe. Von den 334.000 eingeschlossenen Mann waren 66.500 wirkliche Fronttruppen … die anderen, also über 270.000 Mann, gliederten sich in Nachschubeinheiten, Werkstätten, Eisenbahnbataillone, Bautrupps, Troß, Führungsstäbe, Transportstaffeln; es war klar, daß diese ›Truppen am Drücker‹ zuerst von dem einfliegenden Material das abstaubten, was sie selbst brauchten. Für die kämpfenden, ausgebluteten, hungernden, frierenden, erschöpften Landser in den Löchern und Kellern Stalingrads, in den Erdbunkern und Schneewehen der schutzlosen Steppe blieb der kärgliche Rest. Vom 10. Januar an war es täglich fast nichts, vom 16. Januar ab gar nichts mehr … von Pitomnik flüchteten die Zahlmeister in warmen, dicken Lammfellmänteln und hohen Filzstiefeln … in der Steppe von Rakotino lagen die sterbenden Kompanien in dünnen Sommermänteln bei 40 Grad Kälte auf dem Eis, und in den Knobelbechern erfroren die Füße, weil es nicht einmal Wollsocken gab. Die lagen in einem riesigen Versorgungslager irgendwo im Kessel, das beim Anrücken der sowjetischen Panzer in Brand gesteckt wurde, nachdem der Stabszahlmeister vorher ordnungsgemäß die Posten ausbuchte und die Listen abschloß. Die Kisten mit den Bestandsmeldungen nahm er auf der
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