Das Herz der 6. Armee
Lauf vor der Brust fühlte. Er riß die Augen weit auf, und man muß zugeben, daß selten ein verzweifelteres Gesicht unter einer schiefen Pelzmütze dreingeschaut hatte.
»Briiederchen …«, stammelte er. »Njet …«
»Hau ab!« sagte Knösel heiser. »Und wenn du jetzt denkst, alle Deutschen sind Scheißer … hau ab …«
»Pistollä bittä …«, sagte Kaljonin und zitterte.
»Dawai …«, schrie Knösel. Seine Kehle schnürte sich zu. Da hat man einen Freund, dachte er, und da ist so ein Mistkrieg, und man muß den wilden Heini spielen.
»Pistollä …«, bettelte Kaljonin. Knösel verstand ihn. Wenn Kaljonin ohne seine Maschinenpistole bei der Truppe erschien, war es klar, was vorgefallen war. Man würde ihn als Feigling auslachen, verspotten, degradieren, vor ein Kriegsgericht stellen. Man kannte da kein Erbarmen bei den Truppenkommissaren. Ein Mladschij-Sergeant, der sich seine Maschinenpistole wegnehmen ließ. Es war undenkbar.
Kaljonin umklammerte den Lauf der Pistole und drückte ihn an sein Herz.
»Schieß, Briieederchen …«, stammelte er. »Bittää … schieß …«
Knösel schluckte krampfhaft. Dann atmete er tief auf, sah Kaljonin noch einmal in die flatternden Augen, drehte die Maschinenpistole herum und schlug ihm den eisernen Kolben auf den Kopf. Mit einem Ächzen brach Kaljonin zusammen und rollte in die Mulde, ein Häufchen Wattestoff mit einer Pelzmütze.
Er wußte nicht, wie lange er so besinnungslos gelegen hatte. Als er aufwachte, war es Abend. Der Brotbeutel fehlte und mit ihm die Flasche Knollenschnaps, zwei Büchsen Sojabohnen in Tomatensoße, eine Dose Rindfleisch und zwei Beutelchen mit Hartkeks. Das war nicht schlimm. Man konnte zurückgehen zur Kompanie und neue Lebensmittel fassen. Aber die Maschinenpistole fehlte, und das war etwas, was Iwan Iwanowitsch Kaljonin fast den Verstand raubte. Er heulte los wie ein junger, verirrter Wolf, hieb mit den Fäusten gegen die Betondecke, fluchte auf alles, was lebte … und dann dachte er an sein Weibchen Veraschka, die nun ohne ihn, den Wanja, ihr Kindchen zur Welt bringen mußte. Das ließ ihm die Tränen in die Augen steigen, und er setzte sich hin, wurde ganz still, weinte nur und nahm Abschied von seinem ahnungslosen Täubchen.
Dann stieg er aus dem Deckenversteck, kletterte in die zweite Etage und reckte sich.
Schießt, dachte er. O ihr deutschen Hunde, schießt doch. Eine Scheibe bin ich … hundert Meter liegend aufgelegt … da müßt ihr doch treffen. Für unsere sibirischen Scharfschützen wäre es ein Dreckchen … mit geschlossenen Augen träfen sie mich … Ich bitte euch … schießt doch …
Er schwankte über die lose hängende Decke bis zu einer Treppe, die an der Hauswand noch befestigt war, als sei sie schon immer freischwebend konstruiert gewesen. Und hier fand Iwan Iwanowitsch Kaljonin zum zweitenmal sein Leben wieder … oben an der Treppe lehnte seine Maschinenpistole, säuberlich hingestellt, so daß man sie gar nicht verfehlen konnte.
»Briieederchen …«, sagte Kaljonin und drückte die Waffe an seine Brust. Dann saß er unter der Treppe in Sicherheit und wußte nicht mehr, was er tun sollte. Der Krieg war innerlich in ihm gestorben. Bei dem Gedanken, wieder auf einen Menschen schießen zu müssen, wurde ihm schlecht.
O heilige Mutter von Kasan, dachte Kaljonin erschrocken, was ist aus mir geworden? Wie kann man in einer Hölle leben und will ein Engel sein …?
Knösel war zurückgekehrt, ohne Pastor Sanders gefunden zu haben. Am Abend des 26. Dezember ging Weihnachten zu Ende … sowjetische Panzer, frische mongolische Truppen und sechs Batterien Stalinorgeln brachen aus dem ›Tennisschläger‹ vor und hämmerten auf die deutschen Kellerbunker. Kalkstaub und Schneenebel zogen träge über die Trümmerwüste. Aus ihrem Schutz heraus sprangen die Stoßtrupps, zischten die prasselnden Ölfinger der Flammenwerfer, ratterten die Panzer durch die Straßen und walzten die deutschen Trichterstellungen nieder.
Aber noch etwas anderes geschah, was ungewöhnlich war: Der junge Leutnant, der mit seinem Ersatz und seiner gestohlenen Verpflegung im Keller bei Dr. Portner saß und nicht wußte, wohin er mit seinen Männern sollte, weil alle Telefonleitungen zerschossen waren und der Funkverkehr nach dem Feuerüberfall abriß, dieser junge Leutnant mit dem Gesicht eines Greises stand neben dem Funkgerät und sah zu, wie der Funker sich bemühte, irgendeine Verbindung zu bekommen. Plötzlich sah er Stabsarzt
Weitere Kostenlose Bücher