Das Herz der Dunkelheit: Psychothriller (German Edition)
nach hellblauen Hondas Ausschau gehalten, parkend oder im Verkehr.
Martinez sagte nichts, und falls Grace oder irgendjemand sonst seine innere Unruhe aufgefallen war, nahm er an, dann hatten sie das sicher der Anhörung geschuldet.
Grace war ohnehin in einer völlig anderen Welt.
Sie ging liebevoll mit Joshua um, dann zog sie sich auf einmal zurück – wieder derselbe Kreislauf, nur diesmal noch heftiger.
Sam wusste, dass es riskant war, Bianchis Schwester aufzusuchen.
Aber falls – und es war ein großes Falls – Gina Bianchi irgendetwas Wichtiges über ihren Bruder herausgefunden und sich entschlossen hatte, es Sam mitzuteilen, ihre Meinung dann aber geändert hatte, dann bestand die Gefahr, dass sie es auch niemandem sonst je mitteilen würde.
Und das schien ihm ein noch größeres Risiko zu sein.
Er verließ Key Biscayne früh, rief Martinez von unterwegs an.
»Ich melde mich einen Tag krank«, sagte er. »Du musst mich decken.«
»Du fährst nach Naples?« Sein Partner stöhnte auf. »Das ist nicht dein Ernst!«
»Ich habe keine andere Wahl.«
»Ruf Wagner an!«, wiederholte Martinez noch einmal.
»Um ihm was zu sagen? Ich muss wissen, warum sie gekommen ist!«
»Vermutlich, weil sie dich hasst, Mann.«
»Natürlich hasst sie mich. Aber sie wollte mit mir reden.«
»Vielleicht wollte sie dir auch nur in deinen sturen Arsch schießen«, schlug Martinez vor.
Sam lächelte. »Ich glaube, das ist nicht ihr Stil, aber ich könnte mich täuschen.«
Sams Gedanken überschlugen sich während der Fahrt auf der Alligator Alley, genau der Strecke, die er erst vor Kurzem mit seinem Vater gefahren war. Er konnte nur hoffen, dass das Ergebnis diesmal besser ausfallen würde. Er erinnerte sich an Grace’ Worte, nachdem er seine letzte Vernehmung von Cooper vermasselt hatte; dass sie beide ihre Orientierung und Selbstdisziplin verloren hätten. Und er war sich nicht sicher, ob sein Urteilsvermögen heute weniger verzerrt war. Aber er hatte das Gefühl – er wusste –, dass er keine Alternative hatte, als es zu versuchen.
Er stand auf dem Gehsteig vor den Geschäftsräumen der Stephen L. Jacks Foundation in der 6th Avenue North, als Gina Bianchi um zehn vor neun ankam. Sie sah ihn erst, als sie nur noch etwa fünf Meter entfernt war.
Sie blieb wie angewurzelt stehen, und ihre Miene erstarrte.
Und dann schüttelte sie entschieden den Kopf und kam auf ihn zu.
»Es tut mir leid«, sagte Sam.
»Das wird es mit Sicherheit«, erwiderte sie.
Er nahm die Drohung wahr, wusste, dass er sie irgendwie wegstecken musste, wusste, dass er hier und jetzt an sie herankommen musste, hier draußen auf diesem Gehsteig.
»Sie sind zuerst zu mir gekommen«, begann er vorsichtig.
»Ich bin nicht zu Ihnen gekommen.«
»Ich glaube, Sie haben es sich anders überlegt«, fuhr Sam fort. »Aber ich hatte den deutlichen Eindruck, dass Sie nach Miami Beach gekommen waren, weil Sie mir etwas zu sagen hatten.«
»Sie haben sich geirrt.« Sie wandte sich ab.
»Meine Frau wird an diesem Freitag vor Gericht stehen.«
Gina Bianchi wandte sich noch einmal um. »Weil sie meinen Bruder getötet hat.« Ihre Stimme war leise, aber der Zorn loderte noch immer.
»Und sie zerfleischt sich selbst deswegen, und es tut ihr – es tut uns beiden – so unendlich leid für Sie und Ihre Eltern. Ich hätte vor ein paar Jahren selbst um ein Haar meinen Bruder verloren. Es lässt sich nicht in Worte fassen, was ich dabei empfunden habe, daher kann ich mir Ihren Verlust nur annähernd vorstellen.«
Zwei Männer in Anzügen kamen auf dem Weg in das Gebäude an ihnen vorbei, und einer von ihnen sah erst Gina und dann Sam kurz an.
»Die Wahrheit ist, Grace dachte, er würde sie töten«, sprach Sam weiter. »Und was aus ihrer Sicht noch schlimmer war: Sie dachte, er würde einem verängstigten Jungen etwas antun.« Er war erbärmlich, und er wusste es. »Und ich glaube, Sie sind nach Miami gekommen, weil Sie vielleicht irgendetwas Wichtiges herausgefunden haben.«
»Ich gehe rein«, erwiderte sie. »Ich bin schon spät dran.«
»Nur eine Minute noch.« Er war ein verzweifelter Mann. »Und dann bin ich weg.«
Sie schüttelte den Kopf. »Eine Minute, und ich bin weg.« Sie hob ihr Handgelenk, sah auf die Uhr.
»Danke.«
»Sie verschwenden Ihre Zeit.«
Auf der Uhr.
»Ich bitte Sie nicht, jetzt sofort eine Entscheidung zu treffen, Miss Bianchi, denn wenn Sie irgendetwas Beunruhigendes herausgefunden haben, dann kann ich mir vorstellen ...«
Der
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