Das Herz der Feuerinsel: Roman (German Edition)
war es hier, die Uhr hatte aufgehört zu ticken.
»Bleibst du hier und passt auf Ida auf?«, fragte Jacobina. »Dann werfe ich einen Blick hinaus.«
»Ja.« Erschöpft ließ sich Floortje an der Wand unter dem Fenster nieder.
Jacobina zögerte noch. »Kann ich dich denn allein lassen? Ich weiß ja, du hast Angst im Dunkeln.«
Floortje schwieg einen Augenblick, dann sagte sie leise: »Ich glaub, ich hab mehr Angst vor dem, was ich da draußen sehen könnte, als vor der Dunkelheit hier drin.«
Jacobina setzte ihr Ida zwischen die Knie und strich Floortje über das Schienbein, dann tastete sie sich die Wand entlang zur Tür, die einen Spalt weit aufstand. Vorsichtig spähte sie hinaus und sah ein kleines Feuer auf dem Boden vor der Veranda, dessen Widerschein die Gesichtszüge einer Handvoll Menschen beleuchtete und gleichzeitig verfremdete. Dahinter schälten sich die Silhouetten vieler Menschen aus der Finsternis und die Gerippe verkohlter, umgestürzter Bäume. Es war eine Szene wie zu Anbeginn aller Zeiten, just als der Mensch das Feuer entdeckte, in einer Welt, in der es noch nichts gab außer Wildnis. Vielleicht war es auch das Ende aller Zeiten, Jacobina wusste es nicht, und sie trat auf die Veranda hinaus.
Eines der Gesichter am Feuer wandte sich ihr zu, und Jacobina benötigte ein paar Herzschläge, um Herrn Beyerinck zu erkennen. Er hielt seine Tochter auf dem Schoß, und seine Schultern ruckten unter unhörbaren Schluchzern; neben ihm saß mit dem älteren der beiden Söhne eines der Mädchen, die für die Beyerincks arbeiteten. Jacobinas Blick wanderte weiter und fiel auf Frau Beyerinck; zumindest vermutete sie, dass sie es war. Ihr langes Haar, das sie sonst immer zu einem strengen Knoten trug, hing ihr steif über die Schultern; ihr Sarong war zerrissen und enthüllte klaffende Wunden an den Beinen. Eine Brust lag frei unter dem herabgezogenen Ausschnitt der Kebaya, offenbar hatte sie ihren kleinen Sohn stillen wollen, den sie in ihren Armen wiegte. Ohne eine Regung lag das Kind da; ein Ärmchen hing leblos herunter, und das Gesichtchen war wächsern.
Jacobina stiegen Tränen in die Augen; sie wollte den Beyerincks etwas Tröstliches sagen, aber alles, was ihr an Worten in den Sinn kam, schien ihr zu banal und zu hölzern, und so nickte sie Herrn Beyerinck nur zu, in der Hoffnung, er verstand, dass sie ihm damit ihr Mitgefühl ausdrückte.
»Und?«, hörte sie Floortje hauchen, als sie wieder hereinkam.
Jacobina schwieg und ließ sich neben ihr nieder.
»So schrecklich?«, fragte Floortje nach.
»Ja«, flüsterte Jacobina und zog Ida auf ihren Schoß.
»Die zwei …«, setzte Floortje nach einer Weile erneut an. »Die zwei Männer? Drüben?«
Jacobina schluckte. »Ich glaube, sie sind tot.«
Floortje erstarrte einen Herzschlag lang, dann begann sie leise in sich hineinzuweinen. »Das ist gut«, schnaufte sie unter Tränen hervor. »Dann bin ich jetzt endlich frei.« Sie schmiegte den Kopf an Jacobinas Schulter, und Jacobina legte den Arm um sie. Vielleicht würde Floortje ihr mehr erzählen, wenn sie so weit war.
Nur mit halbem Ohr nahmen sie draußen einen Tumult wahr und wie jemand hastig ins Haus hineinrannte, im Schlafzimmer herumwühlte und wieder hinausstürmte. Erst die festen Schritte Herrn Beyerincks ließen Jacobina unwillkürlich aufsehen.
»Fräulein van der Beek, Fräulein Dreessen!« Er sprach schnell und wirkte aufgeregt, fast fieberhaft. »Die Einheimischen haben grüne Lichter über dem Gipfel des Rajabasa gesehen und glauben, dass er in Kürze ebenfalls ausbricht. Wir sollten keine Zeit verlieren und auf der Stelle aufbrechen!«
Jacobina spürte, wie Floortje an ihrer Schulter den Kopf schüttelte. »Ohne mich. Ich gehe nirgendwo hin.«
»Seien Sie vernünftig!«, herrschte Beyerinck sie an. »Denken Sie doch wenigstens an das Kind!«
»Geh ruhig, Jacobina«, hauchte Floortje. »Ich bleibe hier.«
»Floortje …«, begann Jacobina zögerlich, doch ein erneutes Kopfschütteln, energischer dieses Mal, brachte sie zum Verstummen. Jacobina fühlte sich für Ida verantwortlich, wollte aber auch Floortje nicht alleine lassen. Herr Beyerinck und die Einheimischen kannten sich bestimmt mit den Vulkanen aus – aber wie weit käme man hier, in dieser zerstörten Gegend, bis einen dann doch der Feuertod ereilte? Und wie weit käme vor allem Ida, die doch noch so klein, so zerbrechlich war? Sie zog das Kind enger an sich und presste den Mund in ihr Haar, das angesengt roch; der
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