Das Herz der Feuerinsel: Roman (German Edition)
waren die de Jongs noch nicht ein Mal dort gewesen, seit sie ihre Stellung angetreten hatte. Und angesichts der Vielzahl der Gäste, die in schöner Regelmäßigkeit den Sonntagvormittag hier auf der Veranda verbrachten und zur rijsttafel blieben, waren die Gottesdienste offenbar grundsätzlich nicht sonderlich gut besucht.
»Leicht ist es nicht«, sagte Jan Molenaar zwischen zwei Zigarettenzügen. »Hier auf Java ist der Islam stark verbreitet. In ihren Grundzügen sind sich die beiden Religionen sehr ähnlich, aber ich habe den Eindruck gewonnen, dass der Islam etwas hat, das den Menschen und der Lebensart hier näher ist. Etwas, das sich besser mit dem Volksglauben verträgt, der immer noch lebendig ist. Etwas Leidenschaftlicheres als unser nüchternes Christentum.« Er lächelte Jacobina zu. »Ich gebe trotzdem nicht auf und leiste jeden Tag meinen kleinen Beitrag in der Missionsarbeit. Auf dass sie irgendwann Früchte trage.«
Jacobina lächelte zurück. Sie erwärmte sich mehr und mehr für den Besucher der de Jongs, und ihre Hand, die noch immer den Morgenrock vor ihrer Brust festhielt, lockerte sich und glitt schließlich in ihren Schoß hinab.
»Flaubert«, murmelte er nach einer kleinen Pause und strich über den Ledereinband des Buches, dessen Seiten sich in der feuchten Luft Javas zu wellen begonnen hatten. Unverwandt sah er Jacobina an. »Was reizt Sie an Flaubert?«
Auf diese Frage war Jacobina nicht gefasst; ihr Magen schnürte sich zusammen, und sie brauchte eine Weile, um nachzudenken. »Flaubert ist …«, antwortete sie schließlich leise, »lebendig. Ich meine damit, dass es in seinen Werken zugeht wie im richtigen Leben. Es gibt darin keine Heldenfiguren, sondern Personen mit Schwächen und mit Fehlern, gänzlich unvollkommen.«
»Menschen wie du und ich«, raunte Jan Molenaar.
Das Timbre seiner Stimme und wie er sie dabei ansah, schickten einen wohligen Schauder über Jacobinas Rücken. Schnell trank sie noch einen Schluck.
»Vielleicht«, fuhr er langsam fort, »sollten die Damen und Herren hier auf Java sich einmal Flaubert zu Gemüte führen.« Jacobina wusste nicht, worauf er hinauswollte, und schwieg; sie war ohnehin zufrieden damit, hier mit ihm in der warmen Nachtluft zu sitzen und ihm zuzuhören. »Es würde ihnen sicher nicht schaden, mit Flauberts selbstzufriedener, verblendeter Bourgeoisie einen Spiegel vorgehalten zu bekommen. Diese extravagante, genusssüchtige – ja, selbstzufriedene! – Lebensart, in der sie hier schwelgen, während gleich nebenan …« Unvermutet heftig drückte er den Stummel seiner Zigarette im Aschenbecher aus und lächelte Jacobina schief an. »Entschuldigung. Ich wollte Ihnen nicht die Freude an Ihrer neuen Heimat verderben.«
Jacobina schüttelte den Kopf. »Das haben Sie keineswegs. Bitte, reden Sie weiter.«
Er lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und fuhr sich mit einem tiefen Ausatmen durch das Haar. »Verstehen Sie mich nicht falsch, ich mag sowohl Vincent als auch Griet sehr gern. Ich wünschte nur, beide würden ab und zu einmal ein bisschen über ihren goldenen Tellerrand schauen. Vor allem Griet …« Gedankenvoll klopfte er mit der Handfläche gegen die Armlehne, dann wandte er den Kopf und sah Jacobina ernst an. »Hier liest man keinen Flaubert. Hier liest man überhaupt sehr wenig, was über Zeitungen, Broschüren und Geschäftsberichte hinausgeht. Allenfalls noch einen sentimentalen französischen Kitschroman, vor allem dann, wenn er ein bisschen schlüpfrig ist. Wissen Sie, was eine leestrommel ist?« Auf Jacobinas Kopfschütteln hin erklärte er: »Das ist eine Kiste aus Zinn, die bunt gemischten Lesestoff enthält und zwischen den Plantagen im Umlauf ist. Ein Segen für die Bewohner, die oft sehr abgeschieden leben, aber der Inhalt besteht immer aus stapelweise Magazinen und nur einigen wenigen Büchern. Und es gibt hier auf Java nicht wenige Niederländer, die Lesen als solches für hanebüchenen Unsinn halten. Die die Meinung vertreten, dass man nur Kataloge und Banknoten drucken sollte, weil alles andere Papierverschwendung ist.« Er verstummte und starrte an ihr vorbei in die Nacht, gleichermaßen erzürnt wie nachdenklich. Sein Blick richtete sich wieder auf Jacobina, und ein Lächeln umspielte seinen Mund, als er sanft hinzufügte: »Deshalb war ich so erstaunt, dass Sie Flaubert lesen. Erstaunt und erfreut.«
Jacobinas Wangen glühten, und sie stellte das noch nicht einmal halb geleerte Glas auf den Tisch,
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