Das Herz der Hoelle
des Hockers. Ich stellte mir Sylvie vor, wie sie, über ihre Uhrwerke gebeugt, die Rädchen und Ritzel ineinanderfügte, während die Sonne aufging.
Ich kehrte in den Gang zurück und öffnete die erste Tür. Ein Esszimmer, das im alten Stil eingerichtet war. Massive Möbel, runder Tisch mit einem weißen Tischtuch, gebohnerter Parkettfußboden. Wer kam für die Instandhaltung des Gebäudes auf? Wem gehörten all diese Sachen? Ich fragte mich, ob Sylvie Simonis vielleicht noch weitläufige Verwandte hatte. Oder ob die verhassten Angehörigen ihres verstorbenen Mannes das Erbe antreten würden.
Ich drückte den Schalter an der Wand. Das Licht ging an. Unwillkürlich warf ich einen Blick auf die geschlossenen Fensterläden: Es bestand nicht die geringste Gefahr, dass man mich von außen sehen könnte. Ich durchsuchte alle Möbel – reinste Zeitvergeudung. Tafelservice, Bestecke, Tischdecken, Servietten. Kein einziger persönlicher Gegenstand. Ich schaltete das Licht aus und verließ das Zimmer.
Die zweite Tür führte in die Küche. Die gleiche Reinlichkeit, die gleiche Farblosigkeit. Strahlende Fliesen, makelloses Geschirr. Die hohen Einbauschränke aus Holz standen voll mit Küchenutensilien und modernsten elektrischen Haushaltsgeräten. Kein Foto an den Wänden, kein Notizzettel auf dem Kühlschrank. Man hätte meinen können, in einer möblierten Mietwohnung zu sein.
Ich kehrte um und stieg die Treppe hinauf. Der schmale Gang im ersten Stock führte zu zwei Zimmern, die vollkommen leer waren. Das dritte war Sylvies Zimmer, wie ich sofort spürte. Polierte dunkle Möbel aus dem Jura. Auf dem Boden blankes Parkett, ohne Teppich. Verputzte Wände. Ein Bettgestell aus Eiche ohne Matratze und Federbett. Ich zog die Schubladen auf, öffnete die Schränke. Leer. Das Haus war gefilzt und teilweise ausgeräumt worden. Von den Gendarmen? Von den Erben des Hauses?
Es war 19.10 Uhr. Seit mehr als einer halben Stunde trieb ich mich hier herum, ohne irgendetwas gefunden zu haben. Am Ende des Ganges entdeckte ich eine weitere Treppe, die steil und schmal war. Ich kletterte fast senkrecht nach oben und gelangte in den ausgebauten Dachboden, dessen Mansardendecke mit Glaswolle überzogen war. Zwei kleine Klappfenster waren in die Dachschräge eingesetzt. Es gab hier keinen Lichtschalter, aber ich sah genug.
Das musste das Büro von Sylvie sein. Naturfarbener Teppichboden. An den Wänden helle Stoffbahnen. Das Mobiliar beschränkte sich auf ein Brett, das auf zwei Gerüstböcken lag, Aktenschränke und einen Büroschrank. Ich öffnete die Aktenschränke. Nichts. Die Möbel, in denen die Buchhaltung von Sylvie, ihre Geschäftsund behördlichen Unterlagen gewesen waren.
Trotz der Kälte wurde mir immer heißer. Mein Mantel wog Tonnen, mein Hemd klebte mir an der Haut. Irgendetwas hielt mich noch zurück. Ich spürte, dass es hier irgendetwas zu entdecken gab. Ein Versteck, in dem Sylvie alles aufbewahrt hatte, was mit dem Tod ihrer Tochter zu tun hatte.
Eine Idee.
Ich ging wieder hinunter ins Wohnzimmer und öffnete vorsichtig die Vitrinen. Die Uhren, die Sockel, die Gehäuse. Winkel und Hohlräume, um ein Geheimnis zu verbergen. Ich fummelte an Uhren herum, hob sie hoch, schüttelte sie, öffnete ihr Inneres. Bei der fünften entdeckte ich eine an der Basis eingefügte Schublade. Ich öffnete sie und traute meinen Augen nicht: eine Audiokassette. Ich dachte an die Aufzeichnungen der Telefonanrufe des Mörders. Ich nahm den glücklichen Fund heraus und stellte die Uhr zurück. Eine erste Beute. Weitere Objekte mussten andere Indizien enthalten …
Die Mündung einer Waffe wurde mir in den Nacken gedrückt.
»Keine Bewegung!«
Ich erstarrte.
»Drehen Sie sich langsam um, und legen Sie Ihre Hände auf den Tisch.«
Ich erkannte die Stimme. Stéphane Sarrazin.
»Ich dachte, wir wären uns einig, Sie und ich.«
Ich drehte mich um dreißig Grad und legte die Hände auf das Arbeitspult. Der Gendarm durchsuchte mich flink, wobei er meine Automatik an sich nahm und meine Taschen abtastete.
»Drehen Sie sich um, mit dem Gesicht zu mir.«
Seine schwarzen Haare zeichneten sich deutlich auf seiner Stirn ab. Seine dicht beieinanderstehenden Augen bildeten mit dem Nasenrücken ein Kreuz beziehungsweise einen Dolch, der nichts Gutes verhieß. Er glich »Diabolik«, einem italienischen Comic-Helden der sechziger Jahre. In
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