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Das Herz der Hoelle

Titel: Das Herz der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Charakter.
       Dritte Nachricht:
        
          Das Mädchen ist im Brunnen,
          O ja, sie glaubten es nicht.
          Im tiefen Wasser ist alles vorbei,
          das Mädchen singt nicht mehr …
        
    Ich hielt den Recorder an. Das war zweifellos die letzte Nachricht, die die Gendarmen zu dem Sickerschacht geführt hatte. Sylvie hatte die Geistesgegenwart besessen, sie aufzuzeichnen, obwohl sie im Krankenhaus war. Wie hatte sie sich gefühlt? Weshalb hatte sie ihre Tochter trotz der Drohungen nicht beschützt?
       Bei der Suche nach dem Tonbandgerät hatte ich in der Bibliothek von Mariotte auch ein volkskundliches Buch über die Region mitgenommen: Märchen und Sagen des Jura. Ein Passus im 12. Kapitel bezog sich auf das berühmte Uhrenhaus.
       Zu Beginn des 18. Jahrhunderts, schrieben die Autoren, hatte eine Uhrmacherfamilie dieses Haus am Hang eines Hügels erbaut, um sich vor den eisigen Nordwinden zu schützen und besser arbeiten zu können. Auch wollten sie sich gegen neugierige Blicke abschirmen. Denn diese Handwerker waren Alchimisten. Es war ihnen gelungen, Pendeluhren mit magischen Eigenschaften herzustellen. So präzise Uhrwerke, so winzig kleine Zahnrädchen, dass sie gleichsam Breschen in die Zeit schlugen. Risse, die in eine zeitlose Welt führten …
       Es gab noch weitere Versionen dieser Legende. In einer davon stammten diese Uhrmacher von Zauberern ab. Ihr Haus soll auf einem Sumpf mit übel riechenden Ausdünstungen erbaut worden sein, und die »Risse« in der Zeit, die ihre Pendeluhren auftaten, sollten eine direkte Verbindung zur Hölle herstellen. Diese »Pforten« funktionierten in beide Richtungen. Zwischen zwei gotischen Ziffern sollten die Dämonen auch in unsere Welt gelangen.
       Die Müdigkeit trug dazu bei, dass ich unwillkürlich einen Dämon mit Vampirkopf vor mir sah, der aus einer Uhr entwich und über Sylvie Simonis herfiel, sie biss und vergiftete und seine Signaturen auf ihrem Körper hinterließ. Satan und die abgeschnittene Zunge. Beelzebub und seine schwirrenden Mücken. Luzifer und das Licht, das durch seine Flanken schien …
       Ich schüttelte diese scheußliche Vorstellung ab und setzte meine Lektüre fort. Eine dritte Variante der Legende behauptete, die verfluchten Uhrmacher hätten durch ihre Experimente Unglück über Sartuis gebracht. Behauptungen, die durch die Geschichte bestätigt wurden. Eine Pestepidemie im 18. Jahrhundert, Cholera und Feuersbrünste im 19. Jahrhundert, Gemetzel, Hinrichtungen und mörderische Raserei während der beiden Weltkriege, ganz abgesehen von einer Grippewelle, die 1920 viele Einwohner dahingerafft hatte. In den Tälern um Sartuis machte man das Uhrenhaus und eine dortige vergiftete Wasserleitung für diese Heimsuchungen verantwortlich. Die abergläubischsten Menschen gaben dem Haus sogar die Schuld am industriellen Niedergang der Grafschaft.
       Ich rieb mir die Augen. 2 Uhr nachts. Wieso brachte ich mich wegen dieser Ammenmärchen um mehrere Stunden Schlaf? Eine Frage ließ mir keine Ruhe: Wieso war Sylvie Simonis mit dem Phantom ihrer Tochter in diesem unheilbringenden Gebäude, in dieser Stadt geblieben?
       Ich sah das schräge Pult und die Präzisionsinstrumente noch einmal vor mir. Was ging ihr während all dieser Jahre, in denen sich die Polizei vergeblich abstrampelte, durch den Kopf? Sie hatte die Kassette mit den Nachrichten des anonymen Anrufers aufbewahrt und sicher anderswo weitere Dokumente über das tragische Ende Manons versteckt. Sie hatte nicht versucht, einen Schlussstrich zu ziehen. Weshalb?
       Plötzlich wurde es mir klar.
       Sylvie Simonis hatte ebenfalls nach dem Mörder gesucht. Sie hatte von sich aus vierzehn Jahre lang Nachforschungen angestellt. Mit Geduld und Beharrlichkeit. Sie hatte eigene Spuren verfolgt, eigene Vermutungen angestellt. Deshalb war sie in dieser Stadt geblieben, die ihr nur Unglück gebracht hatte und in der sie ab da angefeindet wurde. Sie wollte in der Nähe des Mörders leben. Sie wollte seine Witterung aufnehmen – und ihn identifizieren. Dies entsprach ihrem beharrlichen Charakter und ihrer Geduld als Uhrmacherin. Sie hatte nicht lockergelassen. Sie wollte den Kopf des Mörders.
       War es ihr gelungen? Ihr Tod stellte vielleicht eine Antwort dar. Im Sommer letzten Jahres hatte sie, auf die eine oder andere Weise, den Mörder ihrer Tochter demaskiert. Doch statt die Behörden zu unterrichten, hatte sie ihm eine Falle

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