Das Herz der Hoelle
Chopard hatte mir die Adresse aufgeschrieben: »42, Rue des Chênes«.
Dafür würde sich ein Umweg lohnen.
Die renovierten Gebäude besaßen geöffnete Giebel, Holzverschalungen und Fachwerk. Die Vorgärten standen in Blüte, die Autos, die am Rand der Gehsteige oder in offenen Boxen parkten, waren allesamt deutsche Modelle: Audi, Mercedes, BMW. Man musste kein guter Spürhund sein, um zu erraten, dass dies die Domizile der leitenden Angestellten der Fabriken für Mikromechanik beziehungsweise für Spielzeug waren, die in diesen Tälern die Uhrenindustrie ersetzt hatten.
Ich stieß auf die Rue des Chênes, die schnurgerade einen steilen Hang hinaufführte. Die Abstände zwischen den Straßenlaternen wurden immer größer, die Villen wurden seltener und versteckten sich in immer weitläufigeren Parks. Ich legte einen anderen Gang ein und kroch in der Finsternis den Hang hinauf.
Das Uhrenhaus war das letzte und lag abseits der Straße. Ein massiver Block, dessen tief nach unten gezogene Dächer eine Schattenpyramide bildeten. Das erste Stockwerk war mit Holzbrettern verschalt, während das Erdgeschoss weiß verputzt war. Ich hatte ein üppig verziertes Landschlösschen mit schwarzem Portal und Spitztürmen erwartet. Dieses Gebäude erinnerte eher an einen großen Bauernhof; rechts unterhalb davon befand sich eine Garage.
Ich fuhr daran vorbei, ohne abzubremsen, bis zu einem Rondell und bog dann in eine Einbahnstraße ein, die plötzlich im Wald aufhörte. Ich schaltete die Scheinwerfer aus und stellte den Wagen ab. Niemand zu sehen. Abseits der Straßenlaternen ging ich querfeldein zurück zum Uhrenhaus.
Ich kam auf der Rückseite heraus. Hier befand sich keine Tür. Ich zog an jedem geschlossenen Paar Fensterläden. Eines davon hatte Spiel. Ich steckte meine Hand in den Spalt, ertastete den Fensterhaken und löste ihn. Ich zog einen Flügel auf und entdeckte dahinter ein Schwingflügelfenster. Ich versuchte die Finger hineinzustecken. Unmöglich. Der Griff auf der Innenseite war nach unten gestellt, der Fensterrahmen also fest verriegelt.
Ich beschloss, Gewalt anzuwenden. Ich nahm einen Stein, wickelte ihn in meinen Mantel und schlug damit kräftig gegen die Scheibe. Das Glas zersplitterte. Ich schob den Arm durch das Loch und betätigte den Griff. Einige Sekunden später war ich im Innern des Hauses. Ich schloss die Fensterläden und das Fenster und legte die Glasscherben, die ich auf der Außenseite aufgelesen hatte, auf den Boden. Wenn nichts Unvorhergesehenes dazwischenkäme, würde der Einbruch erst in mehreren Wochen bemerkt werden.
Ich verharrte reglos und ließ die Atmosphäre des Hauses auf mich wirken. In der Ferne bellte ein Hund. Ich wusste nicht, wo genau innerhalb des Hauses ich mich befand. Die Stille und die Finsternis wirkten auf mich, als wäre ich plötzlich in eiskaltes Wasser eingetaucht. Nach und nach gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit. Vor mir ein Gang und rechter Hand eine Treppe. Links geschlossene Türen.
Ich folgte dem Flur und gelangte ins Wohnzimmer. Ein zusammenhängender Raum, der offen war bis zum Dachstuhl. Unter dem Gebälk verlief ein schmaler Gang, der zweifellos zu den Zimmern führte. Keine Möbel mit Ausnahme von Metallregalen und einer großen, geneigten Arbeitsbühne auf Gerüstböcken in der Nähe eines großen Fensters.
Auf diesen Einrichtungsgegenständen lagen Pendel, Schlagwerke und Sanduhren. Ich ging näher an diese Objekte heran. Ich kannte mich mit Uhren nicht besonders gut aus, glaubte aber, über den Daumen gepeilt, Artefakte aus verschiedenen Epochen unterscheiden zu können – antike Sonnenuhren, mittelalterliche Sanduhren, Uhren mit sichtbarem Schlagwerk, vergoldete Kreise, von Engelchen getragen, die die Zeitalter der Renaissance, der Klassik und der Aufklärung deklinierten. Es gab auch eine Vitrine mit Taschenuhren, die Motive und Materialien variierten: ziseliertes Silber, patinierter Zink, farbiges Emaille. Kein Ticken, kein Klicken.
Wie überall in Sartuis war die Zeit auch hier stehen geblieben.
Ich durchquerte den Raum und näherte mich dem Arbeitspult vor dem großen Fenster. Die Präzisionsinstrumente lagen dort so herum, als hätte Sylvie gerade eine Reglage fertiggestellt. Zangen, Pinzetten, Punzen und Hämmer, die so fein waren, dass sie zu einem Besteck mikrochirurgischer Instrumente zu gehören schienen. Ich legte die Hand auf die lederne Rückenlehne
Weitere Kostenlose Bücher