Das Herz der Hoelle
…«
»Ich schwöre dir, dass ich eine Erklärung finden werde.«
Wieder Schweigen. Ich hörte ihren Atem. Sie wirkte geistesabwesend. Ich wusste noch immer nicht, was ich sagen sollte. Da mir nichts Besseres einfiel, murmelte ich:
»Ich ruf dich an. Versprochen.«
Ich musste etwas unternehmen. Ich musste suchen. Ich lief zu meinem Wagen.
Einen letzten Trick ausprobieren, bevor mir Sarrazin auf die Pelle rückte.
KAPITEL 43
Die Jean-Lurçat-Schule lag im Norden der Stadt, nahe den Leclerc- und Lidl-Supermärkten und einem McDonald’s. Die Sprechanlage an der Pforte hatte zwei Knöpfe: »Schule« und »Frau Bohn«. Direktorin oder Hausmeisterin? Ich drückte auf das Namensschild. Nach einigen Sekunden antwortete eine Frauenstimme. Ich stellte mich als Polizist vor. Schweigen. Dann knisterte der Lautsprecher:
»Ich komme.«
Madame Bohn kam die Treppe heruntergestolpert. Das ist genau das passende Wort: Sie strauchelte mehr, als dass sie ging. Sie musste an die hundert Kilo wiegen und glich in ihrem Loden einer monströsen filzbezogenen Glocke. Den Schülern mangelte es bestimmt nicht an Spitznamen für sie.
»Ich bin die Direktorin der Schule.«
Sie hatte die Hände nach tibetischer Art in die Ärmel geschoben, ein stark geschminktes Gesicht, blonde Locken. Sie sah zu mir auf.
»Geht es um den Fall Simonis?«, fügte sie mit verkniffenem Mund hinzu.
»Ja.«
»Tut mir leid. Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Manon war nicht auf unserer Schule. Sie sind nicht der Erste, der sich täuscht.«
»Wo ging sie zur Schule?«
»Keine Ahnung. Vielleicht in Morteau. Oder in eine Privatschule auf der anderen Seite der Grenze.«
Was für eine freche Lüge. Jeder kannte die Chronologie des Mordes, und niemand hatte von einer Fahrt im Auto von der Schule zum Stadtviertel Les Corolles gesprochen. Ich musterte ihre hellen, hervortretenden Augen. Schweigen. Ich gab auf:
»Entschuldigen Sie die Störung.«
»Das macht nichts. Bin ich gewohnt. Auf Wiedersehen.«
Sie winkte mit einer fleischigen Puppenhand. Ich wartete, bis sie im Innern des Gebäudes verschwunden war, bevor ich über die Schranke stieg. Ich musste mich auf eigene Faust umsehen. Das Archiv suchen, mir Zutritt verschaffen und die Schulhefte von Manon Simonis auftreiben. Wie standen die Chancen dafür? Sagen wir fünfzig zu fünfzig.
Ich durchquerte den Hof, als mir rechter Hand genau an der Stelle, wo das Hauptgebäude und die Turnhalle aneinanderstießen, frei zugängliche Kabinen auffielen. Das Klo. Mir kam ein Gedanke.
Ich schlüpfte in den mittleren Gang, wo sich die Toiletten aneinanderreihten. Am anderen Ende des Flurs erstreckte sich ein kleiner Garten mit raschelnden Bambusstauden und Pappeln. Dieses Detail änderte alles. Ich befand mich nicht mehr in einem gewöhnlichen Schulklo, sondern in einer chinesischen Träumerei, die von Blattwerk eingerahmt war … Ich berührte das Holz der Türen, den Beton der Wände und prüfte, wie baufällig sie waren.
Wie hoch waren die Chancen, dass ich hier das Erhoffte aufstöbern würde?
Ich schätzte eins zu tausend.
Ich öffnete die erste Tür und musterte die khakifarbenen Wände. Risse, Schmutzstreifen, Graffiti von Kindern. Einige mit Filzstift gezeichnet, andere in den Beton geritzt. »Puppi is blöt«, »Pimmel, Zipfel, Schwanz«, »Ich liebe Kevin«.
Ich ging in die zweite Kabine. Das leise Rauschen einer undichten Klosettspülung vermischte sich mit dem Rascheln der Blätter. Ich las weitere Hieroglyphen. »Sabine bläst Karim«, »Arschficker« … Skizzen von Schwänzen und Brüsten verzierten die Texte. Ganz offenbar dienten die Toiletten den Schülern auch dazu, sich abzureagieren.
Dritte Kabine. Ich verließ sie mit dem Gefühl, dass meine Idee absurd war. Ich stieß die nächste Tür auf und blieb wie versteinert stehen. Zwischen zwei Rohren war eine Zeile von ungeschickter Hand in den Stein geritzt worden:
MANON SIMONIS, DER TEUFEL SITZT DIR IM NACKEN!
Das übertraf meine Erwartungen. Ich hatte lediglich einen Namen, eine Anspielung erwartet. Ich ging im Laufschritt über den freien Platz, verschwand in dem Block und eilte die Treppe hinauf in den ersten Stock. Ich traf die Direktorin in ihrem Büro an.
»Wollen Sie mich für dumm verkaufen?«
Sie fuhr zusammen. Sie hielt einen Zerstäuber in einer Hand und
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