Das Herz der Nacht
niederen Werkstätten um den Hof oder gar in ihre Wohnungen zurückzuziehen. Nach hinten gingen die Stallungen und die kleinsten und billigsten der Mietwohnungen hinaus. Besaßen die Höfe zwei Stockwerke, waren diese mit offenen Laubengängen verbunden, die man »Pawlatschen« nannte, was »offener Gang« bedeutete. Therese wusste nicht, wie das tschechische Wort seinen Weg nach Wien gefunden hatte.
Inzwischen war es völlig dunkel, doch der Kutscher schien seinen Weg zu kennen. Er zögerte bei keiner Abzweigung, sondern ließ die Pferde gleichmäßig durch den Schnee traben.
Therese schob die Vorhänge zurück und verrenkte sich den Hals, aber sie fand nicht heraus, in welche Richtung sie fuhren.
War das nicht völlig gleichgültig? Wollte sie überhaupt wissen, wo das Märchenland lag? Es würde seinen Zauber verlieren, konnte man jedem beliebigen Kutscher die Adresse nennen. Nein, ins Zauberland gelangte man nur in der Kutsche, die der Magier aussandte, und nur, wenn man ihm vertraute, dass sein Zauber gelingen würde.
Therese ließ den Vorhang wieder fallen und lehnte sich in ihrem Sitz zurück. Ihre Gedanken eilten auf den verschneiten Pfaden voraus …
András lief durch die Nacht. Er musste vor der Kutsche am vereinbarten Ort sein. Er hatte kein gutes Gefühl, das Palais in dieser Nacht ungeschützt zu lassen, doch selbst wenn er Goran befehlen würde, gleich nachdem er die Fürstin gebracht hatte, nach Wien zurückzukehren, würde der Diener sein Versteck nicht schützen können. Vor menschlichen Einbrechern und vielleicht auch vor der Neugier der Kriminalpolizei, nicht aber vor der Gefahr, die ein fremder Vampir mit sich brachte. Den toten Einbrecher hatte der Diener während des Tages unauffällig fortgeschafft. András wusste nicht wohin. Es genügte ihm, dass Goran ihm signalisierte, er habe das Problem beseitigt. Vielleicht würde der alte Mann vom Friedhof der Namenlosen in diesen Tagen wieder ein Grab schaufeln müssen, für einen Körper, den die Donau ihm zutrug.
Blut zu tilgen und einen Körper wegzuschaffen, ja, das waren Aufgaben, denen der Zigeuner aus den Karpaten gewachsen war. Aber ein Kampf gegen einen Untoten, während sein Herr außerhalb von Wien weilte und ihm nicht zu Hilfe eilen konnte? Nein, da behielt er Goran lieber in seiner Nähe, statt ihn an diesen anderen Blutsauger zu verlieren. Vielleicht würde der Zigeuner gegen einen frisch Gewandelten eine Chance haben. Sie waren zu ungestüm und unvorsichtig in ihrer neu erwachten Gier. Der Mann aus den Karpaten hatte mit vielen ungewöhnlichen Dingen dieser Welt bereits Erfahrung gesammelt. Ihm gelänge es vermutlich, die Fehler eines jungen Vampirs zu seinem Vorteil zu nutzen. Wie András jedoch vermutete, hatten sie es eben nicht mit einem zu tun, dem jede Erfahrung fehlte. Dafür war sein Vorgehen zu methodisch. Dies war eine offene Kriegserklärung und eine Demonstration von Überheblichkeit und Verachtung. Er durfte seinen Gegner nicht unterschätzen.
Und gerade deshalb wäre es ihm lieber gewesen, die Sache jetzt sauber zu beenden, ehe er sich wieder der Fürstin oder Karoline und Sophie zuwandte. Doch wie hätte er dieses Treffen verschieben können?
Die Fürstin hatte viel Mut aufgebracht, den ersten Schritt zu tun. András fürchtete, sie würde es nicht noch einmal wagen. Dies war die Nacht, ihrem Leben eine neue Erfahrungswelt zu öffnen.Und so konnte er nur hoffen, dass unterdessen in seinem Palais nichts geschah, das ihn seine Entscheidung bereuen lassen würde.
Unvermittelt hielt die Kutsche an, und ehe sich die Fürstin fragen konnte, ob sie ihr Ziel erreicht hatten, wurde der Schlag bereits geöffnet. András stand vom fernen Licht einer Lampe in einen goldenen Schimmer gehüllt vor ihr im Schnee.
Thereses Herz machte einen solchen Sprung, dass sie sich beide Hände an die Brust presste, ehe sie die dargebotene Hand ergriff und aus der Kutsche stieg.
»Willkommen im Zauberland, meine Verehrte. Darf ich Sie hineinführen?«
Sie nickte nur. Ihre Stimme schien sich davongemacht zu haben. Der Graf bemerkte es nicht, oder er war so taktvoll, es zu übersehen.
András gab seinem Kutscher und Leibdiener ein paar leise Anweisungen, die Therese nicht verstehen konnte, obwohl sie sich darum bemühte. Der dunkle Riese nickte, nahm die Pferde beim Zügel und stapfte davon.
Daraufhin wandte András sich wieder an seine Besucherin und führte sie auf das hell erleuchtete Rechteck der Türöffnung zu, aus der ihr wohlige
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