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Das Herz der Nacht

Das Herz der Nacht

Titel: Das Herz der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
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Strahlen der Sonne hatten den Horizont passiert und fluteten durch die Stadt. Goran stürzte zu seinem Herrn und schob seinen Arm unter dessen Achsel, doch András schüttelte ihn ab.
    »Geh, wisch das Blut von der Schwelle. Rasch! Ich würde mich nicht wundern, wenn die Kriminalpolizei schon auf dem Weg hierher ist. Ich schaffe es schon allein. Sieh du zu, dass niemand das Blut oder die Leiche zu Gesicht bekommt. Das hätte Unannehmlichkeiten zur Folge, die ich gerade nicht gebrauchen kann.«
    Goran eilte davon, während sich András Stufe für Stufe die Treppe hinaufquälte. Noch krochen die Sonnenstrahlen nicht durch die Fenster des Palais, dennoch drückten sie ihn wie Bleigewichte zu Boden, und er benötigte all seine Kraft, aufrecht bis zu seinem Sarg zu gehen. Dort angekommen, ließ er sich nach hinten sinken und schloss den Deckel. Die Finsternis hüllte ihn ein und erfror den Fluss seiner Gedanken.

 
    20. Kapitel
    Im Zauberland
    Pünktlich bei Sonnenuntergang hielt die Kutsche vor dem Palais Kinsky. Therese wartete bereits in der Halle. Ihr war ein wenig mulmig zumute. Wie konnte sie sich auf so etwas einlassen? Und doch würde sie jetzt um nichts in der Welt noch zurücktreten! Es war wie ein Märchen. In ihrem Kopf drehte es sich ein wenig, als habe sie bereits Champagner getrunken. Etwas besorgt ließ sie den Blick über die Kutsche huschen. Nein, ihr Freund hielt sein Versprechen. Es war ein bequemer, aber unauffälliger, geschlossener Landauer ohne Wappen und mit dichten Vorhängen an den Fenstern. Und selbst der Kutscher war mit seinem weiten, langen Mantel und dem breitkrempigen Hut, den er sich tief ins Gesicht gezogen hatte, in der Dämmerung von keinem zufälligen Passanten zu erkennen. War er überhaupt András’ Diener? Sie war sich nicht sicher. Erst als er abstieg und ihr beim Einsteigen behilflich war, erhaschte sie einen Blick auf sein Gesicht. Ja, es war der riesenhafte Leibdiener und Kutscher des Grafen. Schweigsam, düster und so rätselhaft wie sein Herr. Therese versuchte in seiner Miene zu lesen. Missbilligte er das Vorhaben, in das er sicher nicht im Detail eingeweiht war? Doch wenn er zwei und zwei zusammenzählen konnte – und er kam der Fürstin nicht gerade dumm vor –, dann würde er es erraten.
    Therese spürte, wie ihr Röte ins Gesicht stieg, und sie war froh, dass er den Wagenschlag hinter ihr schloss und sie sich im Schutz der Vorhänge verbergen konnte.
    Der Wagen mit den vier schwarzen Rössern zog an. Wohin er sie wohl bringen würde? Für einen winzigen Moment fürchtete sie, die Kutsche würde den Weg zum Stadtpalais des Grafen einschlagen. Nein, was für ein Unsinn! Das würde er nicht tun, und dafür wäre er auch nicht vierspännig vorgefahren. Soweit sie die Pferde im Dämmerlicht hatte erkennen können, waren es kräftige Kladruber, wie sie auch der Hof gerne für seine schweren Reisekutschen verwendete. Und auch die Kutsche selbst mit ihrer modernen Federung sprach für ein Ziel auf dem Land. Therese begann zu rätseln, wo es liegen und wie es aussehen würde, vielleicht, um nicht darüber nachdenken zu müssen, was sie nach ihrer Ankunft erwartete. Denn sobald sie auch nur einen Gedankenfetzen in diese Richtung sandte, klopfte ihr Herz, als wollte es ihre Brust sprengen, und heiße Wellen rannen vom Kopf bis zu den Füßen. Sie hätte nicht sagen können, ob es in der Kutsche warm oder kalt war. Sie schwitzte und schüttelte sich vor Frost im Wechsel.
    Therese straffte die Schultern und versuchte ihre Gedanken wieder auf ungefährlichere Bahnen zu lenken. Sie hatte sich auf dieses Abenteuer eingelassen, und nun würde sie dem Strom folgen, ganz egal, wohin er sie treiben mochte. András war ihr Freund, und er hatte ihr keinen Anlass gegeben, an seiner Aufrichtigkeit zu zweifeln.
    Und doch war da dieses Düstere, Wilde, Geheimnisvolle, das ihn umwehte.
    War es nicht gerade das, was sie so anzog?
    Therese konzentrierte sich auf die Landschaft, die an ihr vorbeizog. Die Stadt war hinter ihnen zurückgeblieben. Nach dem noch immer nahezu unbebauten Glacis tauchten wieder Häuser zu beiden Seiten auf. Sie waren jedoch niederer als die Mietshäuser und Stadtpalais, in der typischen Bauweise der Vorstädte meist mit sechs Fensterachsen auf ein bis zwei Geschossen, das große Einfahrtstor in der Mitte, das zu einem Hof auf der Rückseite führte. Hier arbeiteten die Handwerker in den guten Jahreszeiten. Im Winter waren sie gezwungen, sich mit ihren Werkbänken in die

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