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Das Herz der Nacht

Das Herz der Nacht

Titel: Das Herz der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
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verloschen, und nun herrschte bereits seit einer Stunde nächtliche Ruhe. Von seiner Neugier getrieben, näherte er sich dem Portal. Trotz seiner recht schmalen Fassade von nur sieben Fensterachsen zur Freyung hinaus gehörte das im Auftrag des Reichsgrafen von und zu Daun, Stadtkommandant von Wien und später Vizekönig von Neapel-Sizilien, entstandene Palais zu den prächtigsten in Wien. Der Baumeister von Hildebrandt hatte es in virtuoser Weise geschafft, den vorhandenen Platz zu nutzen und ein harmonisches Ensemble zu schaffen, das vier Stockwerke in die Höhe ragte und zwei Höfe umschloss. Während sich um den ersten Hof die repräsentativen Salons und die privaten Wohnräume der Familie anordneten, fanden sich um den hinteren Hof die Stallungen, die Wagenremise und Lagerräume. Die Kammern der Dienstboten befanden sich hinter den niederen Fenstern des obersten Stockwerks.
    András hatte keine Schwierigkeiten, das Tor zu entriegeln. Geräuschlos trat er in die Torhalle und öffnete genauso leicht die Tür, die ihn ins Vestibül und von dort zur Prachttreppe führte. Der Treppenschacht nahm fast den gesamten linken Seitenflügel des ersten Hofes ein und führte ihn an elf Statuen römischer Gottheiten vorbei, die dort schweigend in ihren Stucknischen verharrten. Es reizte ihn, sogleich in die privaten Gemächer im ersten Stock einzudringen, doch er zügelte seine Ungeduld und stieg die Treppe bis in den zweiten Stock hinauf. Das Deckenfresko über ihm war vom matten Sternenschein erleuchtet. András legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den Kriegshelden, der von den Genien des Ruhms ins Reich der Unsterblichkeit geleitet wurde.
    »Wie schön!«, murmelte er. Seine Zähne blitzten auf, als er die Lippen zu einem spöttischen Lächeln öffnete.
    András trat in den ovalen Festsaal, der sich über der Eingangshalle erstreckte und dessen Fenster in den großen Hof hinaus zeigten. Die Wände waren mit verschiedenfarbigem Marmor verkleidet, von der freskengeschmückten Decke hing ein Kronleuchter für mindestens fünf Dutzend Kerzen herab. Dem Festsaal vorgelagert befand sich das große Speisezimmer, den Quertrakt zwischen dem vorderen und dem hinteren Hof bildete eine holzvertäfelte Galerie mit gewölbter Decke, dahinter schloss sich die Bibliothek an. Interessiert strich András an den Buchreihen entlang. Ein Teil der Sammlung musste noch aus der Zeit stammen, als Graf Ferdinand Bonaventura Harrachs Tochter Rosa das Palais in ihre Ehe mit einem Grafen Kinsky eingebracht hatte. András nannte selbst eine reichhaltige Bibliothek sein Eigen und eine noch größere Sammlung von Gemälden und anderen Kunstschätzen, von denen er einen beträchtlichen Teil nach dem Bankrott des Bankhauses Fries zusammen mit dem Palais übernommen hatte. Diese hier enthielt jedoch ein paar Bände, die er sich gerne genauer vornehmen wollte. Aber nicht heute. Ein andermal. Es lagen ja noch so unendlich viele Nächte vor ihm, deren Langeweile es zu besiegen galt. Im Augenblick stand ihm jedenfalls nicht der Sinn nach geistiger Nahrung!
    András trat wieder zurück ins Treppenhaus. Nun konnte und wollte er es nicht länger aufschieben. Er eilte eine Treppe tiefer und betrat die Wohnetage, die von außen durch die dezenter geschmückten und etwas niedrigeren Fenster auszumachen war.
    Wie um sich selbst zu quälen, wählte András zuerst den Trakt des Fürsten. Sein Schlafgemach, das Ankleidezimmer und sein privater Salon waren zwar kostspielig eingerichtet, doch es fehlte ihnen an Seele. Es war mehr eine Ansammlung protziger Möbel, Stoffe und Kunstgegenstände, die ohne einen Blick für das Besondere wahllos verteilt worden waren. Der nächtliche Besucher warf einen Blick hinter die Tapetentür, wo in einem schmalen Bett der Kammerdiener des Fürsten schlief. Dann wandte er sich dem geradezu mächtigen Himmelbett zu, das von unregelmäßigen Schnarchtönen erschüttert wurde. Der Fürst lag auf dem Rücken, den Mund weit geöffnet, so dass András seine vom Rauchen gelb verfärbten Zähne sehen konnte. Das Kinn mit dem gestutzten rötlichen Bart, der sich von den verlängerten Koteletten bis zur inzwischen doppelt ausgeprägten Spitze herabzog, hing schlaff herab und zitterte bei jedem Atemzug. Seine Gesichtshaut war grob und rot – vor allem seine Nase –, was zusammen mit seinem die Decke wölbenden Bauch für ein Übermaß an Wein und Gebranntem sprach. Von Gestalt war er eher vierschrötig zu nennen und sicher mehrere Zoll

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