Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Herz der Nacht

Das Herz der Nacht

Titel: Das Herz der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
Vom Netzwerk:
haben Philipp einen Fiaker holen geschickt«, gab der ältere Mann zurück.
    »Ja aber da müssen Sie doch nicht hier draußen in der Kälte warten!«, protestierte das Hausmädchen. »Kommen Sie solange wenigstens hier in die Halle. Ich warte, bis die Kutsche da ist, und schließ dann hinter Ihnen ab.«
    Der Vorschlag wurde angenommen. Die Gestalt unterdrückte einen Fluch und wich wieder in den Hauseingang zurück. Kurz darauf klapperten Hufe, und das Knirschen von Rädern näherte sich dem Haus.
    »Kommt schnell!«, rief der junge Mann, der Philipp hieß, und öffnete den Wagenschlag. Die junge Frau und der zweite Begleiter stiegen ein. Der Kutscher schwang die Peitsche, die beiden Braunen zogen an. Das Hausmädchen stand noch immer an der Tür und sah dem Wagen nach. Jetzt galt es, schnell zu handeln.
    Für ein menschliches Auge war es nur ein flüchtiger Schatten, der über die Straße huschte. Erst als er die Tür erreichte und im letzten Moment den Fuß in den Spalt schob, hätte ein Beobachter eine hochgewachsene Gestalt mit schwarzem Hut und Umhang ausmachen können.
    »Aber was ist denn …«, stotterte das Mädchen, als ihr die Tür, die sie eben zuschieben wollte, mit einer solchen Wucht aus der Hand gestoßen wurde, dass sie zurücktaumelte.
    »Sch!« Die Gestalt drängte in die Halle, den Finger auf die Lippen gelegt. Doch es war der Blick aus den glühenden Augen, der dem Mädchen die Stimme raubte und jeden Widerstand in ihm erlöschen ließ.
    Die schmalen, blassen Lippen des Eindringlings verzogen sich zu einem Lächeln. »So geht diese Nacht angenehm zu Ende«, raunte er ihr ins Ohr, »nun, zumindest für mich.«
    Tief stachen die Zähne in ihren Hals, und das Wesen der Nacht trank in gierigen Zügen. Nach einer Weile löste es sich von ihr. Das Mädchen hing ohnmächtig in den kalten, starken Armen. Nachdenklich ruhte der Blick aus den unheimlich roten Augen auf ihrer Kehle. Dem untoten Wesen war nicht entgangen, was die Zeitungen schrieben. So zog es ein Messer unter dem Mantel hervor. In einer raschen Bewegung schnitt die Klinge tief in den Hals. Blut sprudelte hervor, und noch einmal schlossen sich die Lippen über der jungen Haut. Wäre es nicht eine Sünde, so viel köstliches Blut zu vergeuden? Noch ein Schluck! Dies musste der letzte sein. Mit einem Seufzer des Bedauerns ließ das Wesen den Körper zu Boden fallen. Die letzten Herzschläge pumpten noch ein wenig Blut aus der klaffenden Wunde, das sich über den weißen Steinboden ausbreitete.
    Der Schatten stieg über die Leiche hinweg, sorgsam bedacht, nicht in die Blutlache zu treten. Nicht, um keine Fußspuren am Ort der Gewalttat zurückzulassen. Es wäre zu schade gewesen, die feinen Lederschuhe zu besudeln. Lautlos öffnete sich die Haustür noch einmal und schloss sich dann wieder, während der Schatten in der Nacht verschwand.

 
    5. Kapitel
    Karoline Maria Wallberg
    Der Morgen nach dem Salon begann für die alte Dichterin damit, dass ein markerschütternder Schrei sie aus dem Schlaf riss. Sie rief nach ihrem Mädchen, das um diese Zeit schon längst hätte auf sein müssen, doch sie kam nicht. Karoline Pichler fluchte und machte sich in Nachtgewand und Morgenmantel auf die Suche nach der Ursache dieser Unruhe.
    Und wo zum Teufel war dieses pflichtvergessene Hausmädchen? Der Ofen war nicht eingeheizt, und – was noch viel schlimmer war – noch kein Kaffee gekocht! Noch immer vor sich hin schimpfend, schlurfte sie zur Tür und öffnete sie. Stimmen brandeten ihr entgegen. Laute, aufgeregte Stimmen. Hysterisches Schluchzen. Die Türen zu den anderen Wohnungen standen weit offen, und anscheinend hatte sich das ganze Haus in der Halle unten versammelt.
    »Was ist denn hier los?«, fragte Karoline Pichler in die Runde, doch niemand achtete auf sie. Sie musste schon die Treppe hinuntersteigen und selbst nachsehen. Als die anderen Mieter sie sahen, starrten sie sie allesamt mit weit aufgerissenen Augen an.
    »Was ist denn los?«, wiederholte die alte Dichterin. Da wichen die Mitbewohner zurück, bis sie sehen konnte, was die Leute so in Aufruhr versetzte, und ihr wurde klar, warum der Ofen nicht eingeheizt und kein Kaffee gekocht worden war.
    Karoline Pichler spürte plötzlich jedes ihrer siebzig Jahre, während sie die Treppe vollends hinabstieg. Ihr Rücken protestierte, als sie sich über den kalten, steifen Körper der Ermordeten beugte.
    Als sie sich wieder aufrichtete, fühlte sie sich noch älter. »Hat irgendjemand schon daran

Weitere Kostenlose Bücher