Das Herz der Nacht
gedacht, die Polizei zu holen?«, fragte die alte Frau.
Die anderen schüttelten betreten die Köpfe.
»Nun, dann sollte das jetzt jemand tun.« Sie sah den jungen Maler an, der die Dachwohnung zwei Stockwerke über ihr bewohnte. »Jemand, dessen Beine ein paar Jahrzehnte jünger sind als die meinen!«
Er nickte, ohne den Blick von der dunklen Lache zu seinen Füßen zu wenden. »Ja, ich laufe sofort los!« Mit einem Ruck riss er sich von dem schrecklichen Anblick los, rannte zur Tür, stieß sie auf und war verschwunden. Die anderen Bewohner verharrten schweigend, wo sie waren, bis der Polizeikommissär eintraf.
»Sehr liebenswürdig von Fürstin Kinsky, Carl Eduard zu empfehlen«, sagte Franz Johann Wallberg und faltete das kurze Schreiben wieder zusammen.
»Sein Spiel hat mich überzeugt. Kraftvoll und technisch ausgereift.«
»Sie haben meinen Sohn also gestern Abend gehört?«
Graf Báthory neigte zustimmend den Kopf. »Ich hatte die Ehre, im Hause Schwarzenberg der Darbietung beiwohnen zu dürfen.«
»Ja, das Konzert im Palais des Fürsten zu Schwarzenberg«, wiederholte der Vater mit Stolz in der Stimme. »Wie ich hörte, war viel hohes Militär vertreten, um der Fürstenwitwe ihre Aufwartung zu machen. Er war ein großer Mann, der Feldmarschall Schwarzenberg. Der Held der großen Schlacht von Leipzig. Der Oberbefehlshaber, der Napoleon das Fürchten lehrte und den frechen Franzosen aus Europa vertrieb. Sein jüngster Sohn scheint das strategische Talent von ihm geerbt zu haben. Noch keine vierzig Jahre und schon Oberst der Kürassiere. Und wie ich erfahren habe, soll er unter Radetzky zum Brigadekommandanten ernannt werden.«
»Ach, Sie kennen Fürst Edmund zu Schwarzenberg?«
Franz Johann Wallberg verzog ein wenig verlegen das Gesicht. »Nicht persönlich, wenn Sie das meinen. Mein Sohn spielt im Theater an der Wien und in vielen der Fürstenpalais – im Sommer natürlich auch in den Kaffeehäusern, das gehört dazu, aber ich verkehre nicht in Hofkreisen. Ich bin nur ein bescheidener Uhrmacher.«
Dies sagte er allerdings mit so viel Stolz in Haltung und Tonfall, als habe er sich als Landesfürst vorgestellt. András wandte sich wieder dem Grund seines Besuchs im Michaelerhaus zu.
»Herr Wallberg, Sie meinen also, Ihr Sohn würde mir Unterricht erteilen? Ich bin anspruchsvoll und will schnell lernen. Und ich sage Ihnen gleich, dass es während des Tages nicht möglich ist. Wenn er also so viele Auftritte hat, wie Sie sagen …«
»Das wird sich schon finden«, fiel der Vater dem Besucher ins Wort. »Ich werde mit ihm reden, dann soll er bei Ihnen vorsprechen, und Sie legen den Unterricht fest, wie es Ihnen beliebt. Soll er zu Ihnen kommen? Was haben Sie für ein Instrument?«
»Einen großen Flügel des hier in Wien ansässigen Klavierbauers Bösendorfer«, gab András Auskunft. Herr Wallberg nickte anerkennend mit dem Kopf.
Plötzlich erklangen Töne aus einem der Nachbarzimmer. Eine zarte Melodie auf einem Pianoforte, die unvermittelt abbrach. András drehte horchend den Kopf. Da hub die Musik wieder an, dieses Mal kraftvoll und fordernd. Wie Wogen türmten sich die Akkorde auf, um in ihrer Erlösung sanft auszulaufen, nur um von neuem Anlauf zu nehmen, dieses Mal schneller, wild und aufpeitschend, fordernd, voller Leidenschaft. András war es nicht bewusst, dass er aufstand und langsam auf die Tür zuschritt, hinter der menschliche Hände dem Instrument dieses Wunder entlockten. Dann verstummte die Musik unvermittelt wieder. András schüttelte den Kopf, so als müsse er sich von einem Zauber befreien, den irgendein Feenwesen über ihn geworfen hatte.
»Ihr Sohn war gestern gut, Herr Wallberg, das will ich gerne anerkennen, aber das, was wir gerade erleben durften, ist wie von einer anderen Welt. Einfach magisch! Ich habe niemals jemanden mit solch einem Ausdruck an Gefühl das Pianoforte spielen hören.«
Zu András’ Verwunderung sah der Vater bei diesem Lob nicht etwa geschmeichelt oder zumindest erfreut drein. Nein, er wirkte gar verärgert.
»Lassen Sie uns zu ihm gehen und mit ihm sprechen, da er ja offensichtlich doch zu Hause weilt«, schlug András vor. »Mich drängt es, sofort mit dem Unterricht zu beginnen.«
»Nein, halt!«, rief der Hausherr und sprang so behände auf, dass er mit einem Mal zehn Jahre jünger wirkte. Den Stock an seiner Seite schien er nun nicht mehr nötig zu haben, dennoch kam er zu spät. András hatte die Tür bereits aufgestoßen und sah in das sich
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