Das Herz der Nacht
anschließende Zimmer.
Es war nur spärlich möbliert. Auf einem Tisch lagen Notenblätter verstreut. Viele davon von Hand beschrieben. Unter dem Fenster stand ein Sekretär, daneben ein alter Sessel. Die Türen eines großen Eichenschranks standen offen und ließen ihn einen Blick auf Bücher und noch mehr Notenbögen erhaschen.
Doch das Herzstück des Raumes war ein schwarz glänzender Flügel, auf dessen Schemel allerdings nicht der erwartete Sohn des Hausherrn saß, sondern eine junge Frau von etwa fünfundzwanzig Jahren. Sie trug ein einfaches Kleid aus grauem Musselin. Die kastanienbraunen Locken hatte sie nur nachlässig zu einem Knoten geschlungen. Ihre Finger noch auf den Tasten ruhend, sah sie überrascht zur Tür und starrte den Fremden an, der so unerwartet in das Musikzimmer platzte. Als sie sich von dem Klavierschemel erhob, sah András, dass sie klein gewachsen war und zierlich wie ein Mädchen.
»Entschuldige Vater, ich wusste nicht, dass wir Besuch haben«, sagte sie mit ruhiger Stimme. András sah Wallberg, der neben ihn getreten war, der Tochter einen zornigen Blick zuwerfen.
»Ich kann später weiterspielen«, sagte sie und begann die Notenblätter zusammenzulegen.
»Nein!«, rief András und war so schnell neben ihr, dass sie nur erschreckt blinzeln konnte. »Schlagen Sie mir meine Bitte nicht ab, Fräulein. Lassen Sie mich hier Platz nehmen und noch einmal Ihrer Kunst lauschen.«
Sie sah zu ihrem Vater hinüber, der resignierend mit den Schultern zuckte. Offensichtlich getraute er sich nicht, dem gräflichen Besucher seinen Wunsch abzuschlagen. Das konnte András nur recht sein. Mit einem erwartungsvollen Lächeln ließ er sich in den Sessel sinken, während der Vater auf einem der Stühle am Tisch Platz nahm.
»Was möchten Sie hören?«, fragte die junge Frau ein wenig verlegen. Vielleicht war sie nicht an Publikum gewöhnt.
»Was war es, das ich eben durch die Tür vernommen habe?«
»Ach das.« Sie machte eine vage Handbewegung zu den zusammengeschobenen Notenblättern. »Das ist eine eigene Komposition, an der ich mich versuche. Es ist noch nicht fertig. Es fehlt im Mittelteil noch ein ruhiger, ich nenne es einen versöhnlichen Teil, und eine Coda zum Abschluss.«
»Eine eigene Komposition?«, wiederholte András zwischen Bewunderung und Unglaube schwankend. Fräulein Wallberg warf ihrem Vater einen nervösen Blick zu.
»Wie wäre es mit einem neuen Walzer von Johann Strauss?«, schlug sie dann heiter vor. »Mein Bruder hat die Noten gestern mitgebracht. Ich habe vorhin kurz draufgeschaut. Ich glaube, er ist sehr hübsch geworden. Er nennt sich ›Wiener Gemüths-Walzer‹ und er ist sozusagen noch druckfrisch.« Sie hob den doppelten Notenbogen hoch, dem man es ansah, dass er – anders als die meisten Partituren hier im Raum – noch nicht von vielen Händen berührt worden war.
András nickte. »Dann lassen Sie mal hören.« Er fand es mutig, dass sie sich für ein neues Stück entschied, dessen mögliche Tücken sie noch nicht übersehen konnte. War sie so unbeschwert, dass sie sich nicht darum scherte, welchen Eindruck sie auf den Gast machte, oder war sie sich ihres Könnens so sicher?
Die junge Frau lehnte den Papierbogen bedächtig gegen den Notenständer und ließ den Blick über die Notenlinien gleiten. András konnte sehen, wie ihre Pupillen wanderten, auf einer Stelle verharrten, sich weiteten und wieder verengten, ehe sie dem Lauf der Melodie weiter folgten. Eine Minute verstrich in vollkommener Stille, eine zweite folgte. András spürte die Ungeduld des Vaters anwachsen, der aber nicht wagte, die Konzentration der Tochter zu stören. Nur seine Hände zuckten nervös in seinem Schoß.
Dann legte Karoline Maria Wallberg die Hände auf die Tasten, warf dem Gast einen kurzen Blick und ein Lächeln zu und begann zu spielen.
Es war etwas ganz anderes als die aufwühlende Dramatik, die András zuvor aus dem Nebenzimmer gehört hatte, doch auch jetzt spürte er in ihrem Spiel das Gefühl, das sie in jeden Lauf, ja in jeden Anschlag legte. Es verlieh dem Stück eine Seele. Nein, die junge Frau bot ihre Seele eingebettet in der Musik dar. Als sie geendet hatte, erhob sich András und verbeugte sich tief.
»Sie machen mich heute Abend zu einem glücklichen Wesen. Ein seltsam schönes Gefühl, mein Fräulein.«
»Danke, Herr Graf, Sie brauchen mir nicht zu schmeicheln«, wehrte sie ab.
»Ich schmeichle nicht. Ich kam als Suchender, und ich habe gefunden!«
Ihr Vater
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