Das Herz der Nacht
den anderen. Und selbst wenn die Hausbewohner als Täter nicht infrage kommen, vielleicht hat der ein oder andere etwas gehört oder gesehen. Außerdem hätte ich gern eine Gästeliste, wer an diesem Abend bei Frau Pichler zu Gast war – und möglichst wer wann mit wem das Haus verlassen hat.« Er sah dabei Schobermeier an, der einen tragischen Seufzer ausstieß.
»Erstellen Sie mir die Liste, dann werden wir die Gäste zusammen befragen. Was mich vor allem interessiert: Waren Fremde da, die nicht aus Wien stammen und sich noch nicht lange hier aufhalten? Wenn ja, besorgen Sie mir die Fremdenprotokolle bei den Bezirksstellen. Vielleicht helfen uns in diesem Fall die strengen Meldevorschriften, die der Hof erlassen hat.«
Schobermeier erhob sich, warf seinem Vorgesetzten noch einen tragischen Blick zu, doch der beachtete ihn nicht. Er war der Kommissär und durfte ihm Anweisungen erteilen. Betont langsam schlurfte Schobermeier hinaus.
Karoline Maria Wallberg stand vor ihrem Kleiderkasten und ließ den Blick mit einem frustrierten Seufzer über die wenigen Gewänder wandern, die sie ihr Eigen nannte. Die neuen Winterkleider waren beide in gedeckten Farben gehalten, grau und dunkelblau, nur von einem schmalen, weißen Kragen ein wenig aufgelockert. Die farbigen Kleider dagegen, die sie besaß, waren hoffnungslos unmodern. Mit solchen Ärmeln lief heute keine Bürgerin mehr herum, die etwas auf sich hielt. Außerdem waren sie zu kurz. Die Zeit, da man ungeniert seine Knöchel und den Ansatz der Waden in feinen Strümpfen zeigte, schien vorbei. Und die anderen Kleider waren für diese Jahreszeit ungeeignet. Dünner, glänzender Seidentaft, tief dekolletiert und nur mit einem schmalen Rüschenband über den Oberarmen. Nein, so sommerlich konnte sie sich nicht kleiden, wollte sie sich nicht lächerlich machen. Schweren Herzens entschied sich Karoline für das Dunkelblaue und legte sich den einzigen echten Kaschmirschal um, den sie besaß. Seine farbenfrohen Muster lenkten vom strengen Schnitt des Kleides ein wenig ab. Sie bat sogar das Mädchen, das ihr den schweren Teil der Hausarbeit abnahm, ihr beim Aufstecken ihres Haares behilflich zu sein. Nun stand sie fertig vor dem kleinen Spiegel und versuchte ihre Frisur von allen Seiten zu betrachten.
»Sie sehen gut aus, gnädiges Fräulein«, sagte das Mädchen, doch Karoline wusste, dass – verglichen mit den Damen des Adels – ihre Frisur ohne echte Raffinesse war. Aber immerhin nicht so bieder langweilig wie ihre einfachen Knoten.
»Brauchens mich dann noch?«
»Nein, du kannst den Ofen frisch befüllen. Der Herr Graf soll bei uns nicht frieren müssen.«
Das Mädchen schlurfte davon. Sie machte ihre Sache ja ordentlich, aber ein wenig langsam war sie schon. Karoline trat ans Fenster und sah auf den Michaelerplatz hinaus. Es war noch zu früh. Er hatte gesagt, er würde nicht vor Einbruch der Dunkelheit kommen. Sie beobachtete die Fiaker, die den belebten Platz von allen Seiten her kreuzten. Dazwischen edle Equipagen – Landauer, Reisewagen oder Stadtcoupés der reichen Wiener und des ausländischen Adels – und ein paar Selbstlenker, bei denen der Eigentümer es vorzog, die Zügel in die eigene Hand zu nehmen. Karoline erkannte den schwarz-weißen Galawagen des Fürsten Windisch-Graetz, der eilig der Hofburg zustrebte und dann durch das Tor verschwand.
Plötzlich ertönte ein Schrei von der Burg her, der von einem Trommelwirbel beantwortet wurde. Karoline konnte die Worte nicht verstehen, doch sie wusste, was der Wachposten gerufen hatte. »Gewehr heraus!« Worauf die bis dahin entspannt herumstehenden Wachsoldaten wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm zusammenströmten, sich in Reih und Glied aufstellten und ihr Gewehr präsentierten, während der Offizier den blitzenden Säbel zog. Und da kam die Kutsche schon in Sicht, die Ursache dieses Aufruhrs vor dem Hofburgtor war. Es war die Leibkutsche von Kaiserin Maria Anna, wie alle Fahrzeuge des kaiserlichen Hofes im sogenannten Hofgrün mit goldenen Streifen auf den Speichen der Räder und das goldene Wappen an der Tür, gezogen von einem Paar weißer Kladruber.
Endlich senkte sich die Dämmerung herab, und die Lampen in den Gassen wurden angezündet. Trübe flackernd verbreitete sich der Schein der Unschlittlampen, denen Rübsamenöl beigemischt wurde, um ein helleres Licht zu bekommen. Doch sie waren nicht zu vergleichen mit den Gaslaternen, die seit einigen Jahren am Kärntnertor leuchteten und versuchsweise
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