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Das Herz der Nacht

Das Herz der Nacht

Titel: Das Herz der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
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den beiden angrenzenden Gassen, der Krüger- und der Walfischgasse, nachts ungewohnten Glanz verliehen. Das Gas wurde in einer der nahen Kasematten der alten Stadtmauer erzeugt. Karoline konnte nur vermuten, dass dieses Wunderwerk der Technik nicht einfach zu bewerkstelligen war. Warum sonst machte man sich nicht daran, die ganze Stadt mit diesem wunderbaren Licht zu erhellen?
    Sie sah dem Beleuchter in seinem weiten Umhang nach, der mit der langen Stange mit dem Flämmchen an der Spitze die Runde machte und eine Laterne nach der anderen entzündete. Nun drehte auch ihr Mädchen mit einer brennenden Kerze in der Hand die seine durch das Haus. Hilde hütete sich, zu viele Lampen und Kerzen anzumachen. Herr Wallberg hasste Verschwendung. Nur das Musikzimmer erstrahlte heute in ungewohnt hellem Glanz. Karoline strich sich ein wenig nervös zum wiederholten Mal den Rock glatt. Gerade als sie für sich feststellte, dass es nun aber dunkel war, klopfte es an der Tür. Sie hielt die Luft an und lauschte, wie Hilde den Gast begrüßte.
    »Folgens mir, Herr Graf. Das Fräulein wartets auf Ihnen.«
    Und dann stand er vor ihr. Noch bleicher und schöner, noch größer und unnahbar vornehmer, als sie ihn in Erinnerung hatte. Sie dachte, er müsse ihr Zittern sehen und das Beben spüren, das sie nach Worten ringen ließ. Dennoch war ihr Knicks von Grazie, und ihre weiche Stimme klang warm, als sie ihn begrüßte und ihn bat, auf dem Klavierschemel Platz zu nehmen.
    »Ich danke, verehrtes Fräulein Wallberg.«
    Falls er etwas von ihrer Unsicherheit merkte, war er wenigstens so höflich, sich nichts anmerken zu lassen. Karoline nahm einen der Stühle und setzte sich links neben ihn. Sie fühlte ein nervöses Räuspern in ihrem Hals, und das Zittern der Hände war kaum zu übersehen. Rasch legte sie sie auf die Tasten.
    Sobald ihre Finger das schimmernd lackierte Holz berührten, spürte sie, wie eine tiefe Ruhe sie überkam. Mit einem lautlosen Seufzer schloss sie für einen Moment die Augen. Das war ihre Welt, ihr Trost, ihre Hoffnung und ihr Glück. Hier vor dem Flügel, eingehüllt in seine Töne, konnte ihr nichts geschehen. Sie würde ihre Sache gut machen. Und vielleicht wäre der Vater stolz auf sie und würde sie mit den Worten loben, die er sonst nur für Carl Eduard kannte.
    »Wollen wir gleich mit dem Unterricht beginnen oder soll ich Ihnen zur Einstimmung ein Stück vorspielen?«
    »Spielen Sie mir das erste Stück vor, das ich lernen werde.«
    »Oh, wir fangen mit einfachen Tonleitern und Dreiklängen an, damit Sie verstehen, welche Harmonien dahinterstehen. Dann spielen wir Tonfolgen und schlagen Akkorde an, um zu lernen, unsere Finger unabhängig voneinander zu bewegen, was vielen Menschen zunächst nicht leichtfällt. Aber dann können Sie bald die ersten Melodien vom Blatt spielen«, versprach sie, »und wenn es Ihnen gefällt, leihe ich Ihnen die zweite Stimme dazu, bis Sie gelernt haben, beide Hände einzusetzen und frei miteinander und gegeneinander laufen zu lassen.«
    Graf Báthorys Brauen schoben sich ein wenig zusammen. »Ach, so kompliziert ist das Spiel des Pianofortes? Wie viele Stunden werden wir brauchen, bis ich beispielsweise aus diesem Gewirr von Linien und Punkten auf dem Blatt Musik hervorbringen kann?«
    Er deutete auf das Notenblatt auf dem Ständer, auf dem »Aufforderung zum Tanz von Carl Maria Weber« stand.
    »Oh, das wird schon eine ganze Weile dauern. Es kommt darauf an, wie sehr Sie sich bemühen, wie häufig und ausdauernd Sie üben und ob die Musik in Ihrem Blut liegt.«
    Der Graf lächelte. »Für die Ersteren kann ich Ihnen das Beste versichern. Wie das mit dem Blut und der Musik ist, müssen wir noch herausfinden. Doch nun spielen Sie mir bitte die ›Aufforderung zum Tanz‹ vor. Ich rücke ein Stück beiseite, lausche Ihnen und nehme mir ganz fest vor, es Ihnen schon bald gleichtun zu können.«
     
    6. Kapitel
    Pianoforte
    Schon als er die Augen aufschlug, wusste er, dass diese Nacht eine besondere für ihn sein würde. Die Sonne war in diesem Augenblick untergegangen. Sein Körper erwachte zum Leben. Wobei »Leben« nicht das treffende Wort war, das seinen Zustand beschreiben konnte. Genauso wenig, wie »tot« die Phase des Tages richtig wiedergab. Sein Körper fiel in etwas wie Todesstarre, sobald sich die Sonne erhob – ob sie ihre Strahlen nun von einem klaren Himmel sandte oder hinter Wolken verborgen blieb. Sein Körper reagierte auf den Lauf des mächtigen Gestirns, das

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