Das Herz der Nacht
alles Leben auf der Erde beherrschte – wenn auch vielleicht nicht in solch unmittelbarer Bindung wie bei ihm. Seine mit den Jahren gewachsenen Kräfte ermöglichten ihm inzwischen zwar in einem gewissen Rahmen, dem Ruf der Sonne zu widerstehen, doch dies raubte ihm noch immer fast seine gesamte Energie. Es war klüger, der Natur zu gehorchen!
Nun jedenfalls, nachdem der Tag sich neigte und die Sonne sich verabschiedet hatte, löste sich die Starre, sein Brustkorb hob und senkte sich und seine Gedanken begannen wieder zu kreisen. Sie waren frisch und knüpften dort an, wo sie am Morgen unvermittelt angehalten worden waren. So etwas wie Schläfrigkeit, die Menschen am Morgen verspüren, wenn sie sich von ihrem Lager erheben, kannte er nicht mehr, seit er vor mehr als zweihundert Jahren seines Blutes und seines Lebens beraubt worden war. Und doch war András nicht nur ein Mittel zur Stärkung gewesen. Ein Opfer für einen kurzen Blutrausch, dessen leere Hülle achtlos dem Tod überlassen wird. Nein, ihm war das Leben als Mensch genommen und dafür die Ewigkeit der Schattenwelt geschenkt worden.
András Petru Báthory dachte nicht mehr oft an diese Nacht, doch heute Abend kam sie ihm aus irgendeinem Grund in den Sinn, als er den Deckel seines Sarges aufklappte und seit vielen Jahren zum ersten Mal wieder diese freudige Erwartung verspürte, was die Nacht wohl für ihn bereithalten würde.
Ja, vielleicht war das der Grund. Zu Anfang war alles noch so neu und aufregend gewesen. Die Genüsse, die die Nacht dem neuen Wesen bot, der Reiz, der um so viel schärferen Sinne. Und dann das staunende Entzücken, als er bemerkte, wie seine Macht über die Menschen zu wachsen begann. Die Kraft seines Willens konnte in ihre Gedanken eindringen, und nicht nur das, es war ihm möglich ihre Gedanken und damit ihre Taten zu beeinflussen.
Mit Feuereifer hatte sich der junge Vampir darangemacht, diese Gaben zu vervollkommnen, bis er sich – ohne zu prahlen – einen Meister nennen durfte.
Hatte er aus diesem Grund den alten Sarg nach Wien mitgenommen? Ruhte er noch immer jeden Tag in ihm, um sich stets an diese erste Zeit zu erinnern, als die Nächte so aufregend waren und er sich noch in den Grüften eines kleinen Friedhofes hatte verbergen müssen? Vielleicht eine Sentimentalität, denn András hätte sich an jedem Ort zur Ruhe legen können, solange er ihn sicher vor Sonnenlicht schützte.
Ja, lange war es her, seit er zum Vampir gewandelt worden war. András wusste nicht mehr, wie es gekommen war, doch irgendwann begann der Reiz der Nacht zu verblassen. Das Blut auf seinen Lippen wurde fad. Wo war die überschäumende Lust geblieben, fragte er sich eines Nachts verzweifelt?
Er jagte weiter, Nacht für Nacht, um die Gier zu besänftigen, die niemals zu stillen sein würde, und er begann die Worte zu verstehen, die er in seiner ersten Nacht als Vampir gehört hatte: dass das Dasein eines ewigen untoten Räubers der Nacht zugleich höchste Lust und tiefste Verdammnis sei.
Heute jedoch versprach die Nacht eine Abkehr von der zunehmenden Langeweile. Behände sprang András aus dem Sarg und klappte den Deckel zu. Er schob die geheime Tapetentür auf, die in das eigentliche herrschaftliche Schlafzimmer führte, trat ans Fenster und warf einen Blick über die Straße. Sie kam vom Palais des Herzogs Albert her, das auf der Bastei errichtet worden war, und führte dann an der unscheinbaren Front der Augustinerkirche vorbei zum Josephplatz und weiter zu dem Torbogen, der die Redoutensäle der Hofburg mit dem Gebäude der Stallburg verband, in der der Kaiser seine wertvollsten Lipizzaner untergebracht hatte. Die meisten der vierhundert Kutsch- und Reitpferde des Hofes befanden sich natürlich zusammen mit dem großen Wagenpark außerhalb der Stadt im Hofstallgebäude, das Kaiser Karl VI . vor mehr als einhundert Jahren auf der anderen Seite des Glacis hatte erbauen lassen.
Gleich hinter der Stallburg mit den Lipizzanern erhob sich die Michaelerkirche mit dem Kreuzgang und den Klostergebäuden und mit den beiden Zinshäusern, deren Wohnungen und Kammern die Barnabiten vermieteten. Sie gehörten sicher zu den guten Zinshäusern in Wien, nicht wie so viele andere – vor allem in den Vorstädten –, hinter deren ansprechenden Fassaden die Menschen zusammengedrängt in winzigen Löchern hausten, ewig schmutzig und laut, im Winter kalt, im Sommer stickig. Ein nicht enden wollendes Elend, von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit genährt.
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