Das Herz der Nacht
Es scheint Ihnen zu Anfang vielleicht unsinnig, doch wenn der Rhythmus schneller wird und Sie mehrere Tasten mit einer Hand greifen müssen, werden Sie merken, dass Sie den Melodiefluss nur dann halten können, wenn Sie rechtzeitig umgreifen.«
András nickte, obwohl ihm noch nicht ganz klar war, wovon sie sprach. Er achtete einfach auf ihre Bewegungen und kopierte sie anschließend. Da er einen scharfen Blick und ein geradezu übernatürliches Gedächtnis hatte, fiel ihm das nicht schwer. Auch die Art des Anschlages, dass der Ton voll und rein erklang wie bei Karoline, erfasste er schnell.
»Das machen Sie sehr gut! Ich glaube schon jetzt sagen zu können, dass Sie Talent besitzen. Glauben Sie nicht, dass ich Ihnen schmeicheln will, Graf Báthory.«
Ja, er glaubte ihr. Ihr Erstaunen und ihre Freude waren so völlig ohne Arg.
»In der Musik gibt es keine Verstellung und keine Lüge, kein Privileg des Adels oder des Geldes. Es gibt nur das richtige Gefühl und Übung, um die Abläufe der Bewegung geschmeidiger werden zu lassen.«
Die Uhr im Salon schlug und erinnerte an die Zeit, die bereits verstrichen war. Weder András noch Karoline war dies offensichtlich bewusst gewesen. Die Köpfe ein wenig einander zugeneigt, den Blick konzentriert auf die Tasten gerichtet, war die Umgebung für sie in weite Ferne gerückt. Nun aber rief die Uhr sie zurück. Karoline sah erschreckt auf.
»Drei Stunden? Ich kann es nicht glauben! Wir haben drei Stunden geübt, und ich habe es nicht einmal bemerkt.«
»Ich werde Ihnen jede einzelne Stunde fürstlich vergüten. Sie müssen sich nicht sorgen«, beruhigte sie András. Doch anscheinend hatte er ihre Reaktion missdeutet. Karoline machte eine ungeduldige Handbewegung.
»Das ist nicht so wichtig. Ich dachte nur nicht, dass es so spät werden würde. Ich habe Vater versprochen, noch heute Abend nach der Klavierstunde nach ihm zu sehen und ihm ein Abendessen zu bringen. Und nun ist es bereits nach zehn!«
András runzelte irritiert die Stirn. »Ich hatte den Eindruck, Ihr Vater wohnt hier mit Ihnen in dieser Wohnung.«
Karoline schenkte ihm ein abwesendes Lächeln. »Aber natürlich wohnt Papa hier mit Carl Eduard. Es ist so, ich will ihm ein warmes Essen ins Spital bringen, denn bei allen Fortschritten, die es im neuen Bürgerspital gibt, das Essen ist nicht das, was Papa gewohnt ist.«
»Ihr Vater liegt im Spital?«, wunderte sich András. »Er wirkte gestern Abend munter und gesund. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was ihn plötzlich so niedergestreckt haben könnte, dass er die Pflege des Spitals benötigt.«
Karolines Miene verdüsterte sich. »Ja, er war von prächtiger Gesundheit. Ich möchte jetzt nicht sagen für sein Alter, denn er hat die sechzig noch nicht erreicht. Er gehört nicht zu den Menschen, die, wenn sie einmal die Mitte des Lebens überschritten haben, den Winter kränklich mit Fieber und Schnupfen dahinsiechen.« Sie stand auf und straffte sich. »Nein, es war keine Krankheit, sondern ein Fiaker, der ihn niedergestreckt hat!«
»Ein Fiaker?«
»Ja, oder eine andere Kutsche, so genau konnte er es nicht erkennen. Vater ist schon früh aufgestanden. Es war noch dunkel, als er zum Bäcker ging, um Brot und einige Kipferl zu kaufen. Da kam ein Wagen um die Ecke gerast. Die Pferde erfassten den Vater, ehe er zurückweichen konnte, und schleuderten ihn gegen einen der Prellsteine, die die Kutscher zu genügend Abstand anhalten sollen.«
»Das ist ungeheuerlich!« András gab sich überrascht, obwohl Unfälle mit Kutschen oder rücksichtslosen Reitern beinahe an der Tagesordnung waren. Natürlich gab es Vorschriften, die mahnten, nur im Schritt durch die Tore und über belebte Plätze zu fahren und ansonsten in der Stadt höchstens einen kleinen Trab anzuschlagen, doch gerade die Herrschaften von Adel kümmerte das wenig. Und auch so mancher Fiaker liebte es, seine schneidigen Fahrkünste nicht nur zum ersten Mai bei der Praterfahrt zu präsentieren.
»Ja, es ist ungeheuerlich!«, wiederholte Karoline. »Und nicht einmal angehalten hat er, um sich für seine rüde Fahrweise zu entschuldigen und seinem Opfer beizustehen. Er ist einfach weitergefahren. Eine Nachbarin, die einen Stock tiefer auf der anderen Seite der Treppe wohnt, fand ihn in seinem Blut liegen und kaum mehr bei Bewusstsein. Carl Eduard hat sofort einen Fiaker geholt und Vater ins Bürgerspital hinausbringen lassen. Das waren keine Verletzungen, die ich mit ein wenig häuslicher Pflege hätte
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