Das Herz der Nacht
Alsergrund auf den Rückweg machte. Das alte Spital hatte innerhalb der Stadtmauern gelegen. An seiner Stelle ragte nun ein riesiges Mietshaus zwischen Kärtnerstraße und Lobkowitzplatz auf. Für wenige Jahre übersiedelte das Bürgerspital nach St. Marx, bis die neuen Gebäude im Alsergrund fertig waren. Kaiser Franz ließ das Krankenhaus großzügig ausstatten, so dass es sogar für jeden Patienten ein eigenes Bett gab. Bisher war es üblich gewesen, dass sich zumindest zwei der Kranken ein Bett teilten. Die Gebäude in St. Marx wurden seit dem Umzug als Versorgungshaus für arme und alte Menschen genutzt.
Die Pferdehufe klapperten über das Pflaster. Karoline sah aus dem Fenster. Der Narrenturm ragte trutzig wie ein alter Festungsturm in den klaren Nachthimmel auf. Doch dieser wehrhafte runde Bau wollte nicht seine Bewohner beschützen, sondern war eher darauf bedacht, die Wiener vor den Insassen zu bewahren, überlegte Karoline laut. Sie sah aus dem Fenster und schauderte.
»Was die Menschen fürchten oder nicht verstehen, haben sie seit jeher weggeschlossen und aus ihrem Blickfeld verbannt«, sagte András.
»Vielleicht ist es unrecht«, gab Karoline zu. »Doch wie könnten wir sie einfach so unter uns leben lassen? Viele von ihnen sind unberechenbar in ihren Reaktionen und gefährlich. Ich vermute, es ist einer von ihnen, der Wien in diesen Nächten unsicher macht, denn wer sonst als ein Wahnsinniger ist in der Lage, solche Bluttaten zu begehen? Es ging schließlich in keinem dieser Fälle darum, Geld oder Schmuck zu rauben.«
»Ach, einen Mord, der dazu dient, sich zu bereichern, fänden Sie weniger verrückt?«, fragte András interessiert.
Karoline verzog ärgerlich das Gesicht. »Sie sagen das so, als würde ich diese Morde entschuldigen! Nein, das nicht, nur gibt esso viel Armut und Elend auch in Wien, dass ich eine Tat aus Verzweiflung, um das Überleben zu sichern, eher verstehen könnte.«
»Die wenigsten Täter morden, um den drohenden Hungertod abzuwenden! Sicher sind manche von ihnen arm, dennoch gibt es viele Tausende Wiener, die ebenfalls arm sind und nicht morden, um sich aus ihrer Misere zu befreien.«
»Das mag ja alles stimmen, dennoch bleibe ich bei meiner Meinung: Der Mörder dieser armen Frauen ist ein Monster und seiner Sinne nicht mächtig. Er ist nicht mehr menschlich, und wenn die Polizei ihn ergreift, dann bin ich dafür, ihn hinter die dicksten Mauern zu sperren!«
András lachte trocken. »Wenn sie ihn ergreifen, dann werden sie ihn einsperren, aber sicher nicht hier im Narrenturm. Er wird Gast im ›Hotel Stern‹, wie man das alte Siebenbüchnerinnenkloster so nett zu nennen pflegt, seit es als Polizeigefangenenhaus dient. Lange wird er den Aufenthalt jedoch nicht genießen dürfen, bis sein letzter Gang ihn zur Spinnerin am Kreuz führt.« András fasste sich an den Hals und verdrehte ein wenig die Augen. »Und das Volk wird zu Tausenden dort hinströmen, um sich an dem Spektakel zu ergötzen.«
»Ich jedenfalls werde nicht dabei sein!«, rief Karoline. »Nein, das will ich nicht sehen, auch wenn ich nicht leugnen kann, dass ich finde, er verdient einen Strick um den Hals oder gar mehr.« Sie schüttelte den Kopf. »Wechseln wir das Thema.«
»Ja, kehren wir zurück zum Narrenturm und den armen, unschuldigen und zumeist ganz harmlosen Insassen«, sagte András, obwohl sich seine Begleiterin sicher nicht das unter einem Themenwechseln vorgestellt hatte. »Ich finde es durchaus bemerkenswert, dass unter einem solch fantasielosen Monarchen wie Kaiser Franz eine derartig fortschrittliche Einrichtung entstanden ist. Nein, ich meine das ganz ernst. Die Verwirrung des Geistes wird nun als Krankheit gedeutet. Zum ersten Mal werden diese Menschen nicht mehr ihren hilflosen Familien überlassen oder irgendwo in einem Kerker weggesperrt, dass sie außerhalb unserer Sicht bleiben und wir ihre Existenz vergessen können. Der Narrenturm wurde inmitten des Bürgerspitals gebaut, und es kümmern sich Ärzte und Schwestern um die im Geist Erkrankten. Die Zimmer oder Zellen sind nach den Bedürfnissen der Bewohner gestaltet. Manche gleichen gar normalen Krankenzimmern. Ja, es ist ein Sieg des humanitären Gedankens, der so viele Bereiche zu durchdringen beginnt.«
Karoline betrachtete ihren Begleiter interessiert. »Das hört sich an, als seien Sie schon einmal im Narrenturm gewesen.«
»Ja, ich habe mir diesen Teil des Spitals angesehen und interessante, aber auch bemitleidenswerte
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