Das Herz der Savanne - Afrika-Roman
weiter, und nach einer Weile wurden Ruths Atemzüge ruhig und tief.
Langsam und sacht befreite sich Horatio von Ruth, bedeckte ihre nackten Schultern mit einem Laken, kleidete sich leise an und schlich aus dem Zimmer.
Es war kühl geworden. Aus der Wüste blies ein kalter Wind, trieb ihm Sandkörner in die Augen.
Das Land lag im Dunkeln. Nur die Sterne und der Sichelmond, der scharf und bedrohlich am Himmel hing, schütteten kaltes Licht auf die beiden Welwitschias herunter, die wie bösartige Gnome seitlich neben der Loggia kauerten. Die Nama sagten der Welwitschia besondere Kräfte nach, weil die Pflanzen sehr alt waren. So alt, dass sie die Welt der Ahnen mit eigenen Augen gesehen hatten. Horatio hatte einmal von einer Welwitschia gelesen, die zweitausend Jahre alt gewesen sein sollte. Manche Nama sagten sogar, dass die Ahnen in den Welwitschias hausten – wofür sonst gab es eine männliche und eine weibliche Pflanze? Warum sonst trugen sie stets nur zwei Blätter am Stamm? Blätter, die vom Wind zerzaust, von Zebras, Antilopen und Nashörnern abgefressen wurden, aber immer aufs Neue wiederkamen?
Eine Wolke trieb am Mond vorüber, verdunkelte für einen Augenblick die Erde. Kurz darauf trat die Welwitschia wieder aus der Nacht hervor, und Horatio schien es, als wäre sie in der kurzen Zeit um einiges gewachsen.
Sein Blick schweifte zum Pontokdorf hinüber. Es lag hinter einem Kameldornhain. Wenn er die Augen fest zusammenkniff, konnte er von dort einen Lichtschein ausmachen. Und Töne. Sehr leise, sich immer wiederholende Töne. Horatio lächelte. Der Schamane, dachte er. Er ist schon da; das Ritual hat begonnen. Er wird um den inneren Feuerkreis herumlaufen und die Daumen aneinanderschnicken lassen, sodass dieser Klang entsteht. Dann wird er den zweiten Kreis um das Feuer, den die Frauen bilden, umkreisen und dann den dritten, den der Männer. Und dann wird er von Hütte zu Hütte gehen, um auch den letzten Mann, die letzte Frau daran zu erinnern, dass die Ahnen gerufen haben und deshalb heute das Feuer mannshoch lodert. Dabei wird er die ganze Zeit seine Daumen wie eine Rassel bewegen, und das Ding, ding, dong, ding, ding, dong wird die Nama an ihre Ahnen erinnern. Und sie werden die Augen schließen und weggehen aus dieser Welt und von diesem Feuer und eintauchen in die Welt der Ahnen. Sie werden lauschen auf das, was die Ahnen ihnen sagen.
Er atmete tief durch, dann lief er an den Wirtschaftsgebäuden und den Lämmerweiden vorbei auf das Dorf zu.
Die zwölf Pontoks standen in einem Kreis. Die Saldens hatten sie vor vielen Jahren erbaut, aus Stein und mit gedeckten Dächern, aber die Nama hatten sie verändert, hatten Lehm auf die Steine geschmiert, wieder und immer wieder, bis die Steine nicht mehr zu erahnen waren und die Häuser den traditionellen Hütten der Eingeborenen ähnlich sahen.
In der Mitte des Pontokkreises befand sich ein runder Pferch, den sich zwei Kühe mit einigen Schafen teilten. Von der Mitte des Pferches verlief eine unsichtbare Linie direkt zur Hütte des Ältesten. Diese Linie war heilig, durfte nicht von jedem übertreten und auch von Eingeweihten niemals berührt werden. Der Älteste, so hieß es, war über diese unsichtbare Linie mit einem der heiligen Rinder verbunden. Und über das Rind mit den Ahnen. Es gab auch ein Feuer, das niemals verlöschen durfte; Horatio wusste von den Bräuchen, obwohl er in der Stadt aufgewachsen war. Das Feuer der Ahnen. Es durfte nicht verlöschen, weil es für die magischen Rituale benötigt wurde.
Horatio war sich sicher, dass der Rauch, den er vor Stunden gesehen hatte, aus ebendiesem heiligen Feuer kam. Die Säule, die gerade und weiß zum Himmel aufstieg, war ein Zeichen. Mit ihm wurde der Schamane gerufen. Und mit ihm alle Nama, die im Umkreis wohnten und den Rauch des Feuers sahen. Nur selten wurde eine solche Säule in den Himmel geschickt, nur zu besonderen Gelegenheiten rief das Feuer die Nama zusammen. Aber wenn dies geschah, so galt es, Existentielles zu besprechen.
Äußerlich ruhig, aber innerlich vor Anspannung zitternd, trat Horatio in den Kameldornhain und überblickte den Hüttenkreis. Die Nama hatten sich vor dem Feuer des Ältesten versammelt. Sie saßen im Kreis, nur einer stand: der Schamane, der nun aufgehört hatte, mit den Daumen das Ding, ding, dong zu machen. Er stand und schüttelte den Kopf, sodass die weißen Haare, die von den Frauen zu unzähligen strammen Zöpfen geflochten worden waren, ihm um die Ohren
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